© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/97  05. September 1997

 
 
Schleyer-Entführung: Am Anfang stand die "Operation Spindy"
Hinrichtung in Köln
von Jürgen Mohn

Die "Offensive ’77" der Roten Armee Fraktion (RAF) begann am 7. April diesen Jahres mit der als "Hinrichtung" proklamierten Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seiner beiden Begleiter Wolfgang Göbel und Georg Wurster. Deren wichtigstes Ziel blieb jedoch die Freipressung von elf inhaftierten Gesinnungsgenossen, darunter die in Stuttgart-Stammheim einsitzenden Anführer Andreas Baader, Gudrun Enss-lin und Jan-Carl Raspe.

Da die RAF der Auffassung war, daß die Entführung eines einzelnen hohen Repräsentanten der Bundesrepublik dazu nicht ausreichen würde, sollte in zeitlich kurzem Abstand folgend eine zweite Person verschleppt und somit der Druck auf die Bundesregierung erhöht werden.

Zunächst versuchte die RAF am 30. Juli 1977, den Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, in ihre Gewalt zu bringen. Als das Trio Susanne Albrecht, Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt den 60jährigen in seiner Wohnung mit vorgehaltenen Waffen aufforderte mitzukommen, setzte sich dieser zur Wehr; anders als geplant, wurde Ponto daraufhin erschossen. Infolgedessen konzentrierte sich nun notgedrungen alles auf die "Operation Spindy" – die Entführung des 62jährigen Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer.

Schleyer war "Spindy" – der Gefangene im Spind, im Schrank der Wohnung Nr. 104, Renngraben 8 im südwestlich von Köln gelegenen Erftstadt. Die Planung und Vorbereitung der Entführung lief seit Frühjahr 1977. Alle zwanzig damals im Untergrund lebenden RAF-Mitglieder waren in unterschiedlicher Funktion darin eingebunden. Im Vorfeld des geplanten Anschlags wurden die Lebensgewohnheiten Schleyers und die wenigen getroffenen Sicherheitsmaßnahmen ausgekundschaftet, ferner die erforderlichen Wohnungen, Fahrzeuge, Waffen und Munition beschafft. Hierbei wurde in Erfahrung gebracht, daß sich Schleyer als Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie in der Regel montags an deren Sitz in Köln, Oberländer Ufer 72 und 84, aufhielt. Die RAF-Kommandoebene beschloß, Schleyer auf dem Weg von seinem Kölner Arbeitsplatz zu seiner Wohnung in der Raschdorffstraße zu entführen.

In den ersten Septembertagen wurden die einzelnen Tatschritte von den Attentätern immer wieder durchgespielt. Nachdem Brigitte Mohnhaupt und Adelheid Schulz am 3. September zum wiederholten Mal am Raderthalgürtel in der Domstadt Stellung bezogen hatten, erschienen sie einem Anwohner verdächtig, der dann auch die Polizei alarmierte. Als kurz darauf eine Streife der Ordnungshüter eintraf, bastelten die beiden jungen Frauen an ihrem defekten Alfa Romeo herum. Ohne deren Personalien zu überprüfen, brachten die Beamten sie in die nächstgelegene Werkstatt. Die Polizisten ahnten nicht, daß sie sich in Lebensgefahr befanden, da ihnen auf dieser Fahrt vier weitere Rotarmisten in einem grauen Mercedes folgten. Bei einer sich abzeichnenden Festnahme der beiden Komplizinnen hätten sie von ihren schußbereiten Waffen augenblicklich Gebrauch gemacht.

Die Entscheidung, den Anschlag am 5. September durchzuführen, fiel erst in einer so bezeichneten "Mitternachtsdiskussion" in der Nacht zuvor. Die bis ins Detail ausgearbeitete Konzeption sah vor, durch einen quergestellten Pkw auf einer Einbahnstraße die Fahrzeugkolonne Schleyers zum Anhalten zu zwingen und dessen Begleitschutz wie auch den Fahrer umzubringen. Da Rolf Heißler in diesem Punkt Bedenken anmeldete, wurde entschieden, daß er sich – ebenso wie Adelheid Schulz – in der "Telefonkette" beteiligte, die das Herannahen der Fahrzeugkolonne dem Täterkommando melden mußte. Das unmittelbar handelnde Kommando rekrutierte sich nun aus Peter-Jürgen Boock, Sieglinde Hofmann, Willy-Peter Stoll und Stefan Wisniewski.

Wie üblich, fuhr Schleyer am Montag, dem 5. September gegen 17.10 Uhr in seinem Dienstwagen – einem ungepanzerten Mercedes 450 – zu seiner Kölner Wohnung. Am Steuer saß sein Fahrer Heinz Marcisz (41), der keine Waffe bei sich trug. Schleyer saß im Fond des Pkw auf der rechten Seite. Direkt dahinter folgte das Begleitkommando in einem Mercedes 280 E. Es bestand aus Polizeihauptmeister Reinhold Brändle (41) und den Polizeimeistern Helmut Ulmer und Roland Pieler, 24 und 20 Jahre alt. Boock und Hofmann sollten die Polizisten ausschalten; Stoll hatte den Befehl, Schleyers Fahrer zu töten. Wisniewski sollte Schleyer in seine Gewalt bringen.

Als die beiden Fahrzeuge gegen 17.28 Uhr in die Vincenz-Statz-Straße einbogen, fuhr Wisniewski – auf dem Gehweg zwischen Bäumen in einem 90 Grad-Winkel und mit dem Heck zur Fahrbahn stehend – rückwärts in die Straße. Marcisz, der Fahrer von Schleyer, konnte noch abrupt anhalten. Dem Beamten Brändle am Steuer des Begleitfahrzeugs gelang dies nicht mehr: er fuhr auf Schleyers Wagen auf und schob ihn auf das Sperrfahrzeug. Unmittelbar danach eröffnete das entlang der Straße postierte, schwer bewaffnete Terrorkommando das Feuer. Insgesamt wurden in ungefähr eineinhalb Minuten mindestens 119 Schüsse abgegeben. Mehrfach getroffen erlag Marcisz nach kurzer Zeit seinen schweren inneren Verletzungen.

In noch weit stärkerem Maße konzentrierten die Täter ihren Angriff auf das Begleitfahrzeug. Brändle wurde 60mal in allen Körperbereichen getroffen und starb kurz darauf. Den Beamten Ulmer und Pieler gelang es noch, den Wagen zu verlassen und aus Maschinen- und Dienstpistolen elfmal zurückzuschießen, ohne jedoch zu treffen. Plötzlich und entgegen jeder Absprache rannte Stoll in höchster Erregung wie ein Irrsinniger quer durch die Schußrichtung von Boock und Hofmann, sprang auf die Motorhaube des Begleitfahrzeugs und verfeuerte die ganze übrige Munition seiner Pistole Kaliber 9 mm Makarov durch die Frontscheibe ins Wageninnere. Pieler und Ulmer wurden je mindestens dreimal tödlich getroffen. Herbeieilende Anwohner, entsetzte Passanten sowie die bald eintreffende Polizei und Feuerwehr konnten wenig später nur noch feststellen, daß beide nicht mehr lebten.

Nach diesem Blutbad wurde der unverletzt gebliebene Schleyer in einen bereitstehenden VW-Bus gezerrt, der sogleich losbrauste. Umgehend nahmen mehrere Autofahrer die Verfolgung auf und jagten dem VW-Bus über Ausfallstraßen bis zum Eingang der Schwimmhalle zur Sporthochschule hinterher. Dort hatte sich durch einen rangierenden Lkw eine Fahrzeugschlange gebildet. Boock konnte eine kleine Lücke finden und weiterfahren; die Verfolger steckten allerdings fest und verloren das Fluchtfahrzeug aus den Augen.

Eine Tragödie, welche die (West-) Deutschen mehr als einen Monat lang in Atem halten sollte, nahm ihren weiteren Lauf.


 
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