© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
Palästinensische Kollektivschuld
von Ernst Fröhlich

Die Terroranschläge in Jerusalem am 30. Juli und 4. September müßten auch dem letzten unerschütterlichen Optimisten gezeigt haben, daß der "Friedensprozeß" in Nahost nur noch ein Schlagwort ist.

Die Reaktionen Tel Avivs auf die Bluttaten lassen eine eindeutig anti-arabische Haltung erkennen: Statt es bei einer angemessen scharfen Verurteilung und der Verstärkung von Sicherheitsvorkehrungen zu belassen, um danach den Friedensprozeß um so energischer voranzutreiben, spielt die israelische Politik massiver Repressionen gegen alle Palästinenser den Extremisten beider Seiten in die Hände. So wird die Chance verspielt, den Terrororganisationen durch eine intensivierte Fortsetzung des Friedensprozesses zu zeigen, daß sie mit ihrem Tun genau das Gegenteil dessen erreichen, was sie beabsichtigen. Kaum war die Likud-Regierung nach 40tägiger Abriegelung der Autonomiegebiete bereit, die Maßnahmen zu lockern, in deren Gefolge Zehntausenden Palästinensern der Weg zu den Arbeitsplätzen in Israel versperrt worden war, da kam es mit einer solchen "Pünktlichkeit" zum nächsten Anschlag, daß man an eine palästinensische Willkürtat nur schwer glauben mag. Der israelische Ministerpräsident ordnete daraufhin weitere Repressalien gegen völlig Unschuldige an. So ließ er Steuer- und Sozialversicherungsabgaben zugunsten palästinensischer Arbeiter aussetzen.

Daß solche Maßnahmen unter den Betroffenen nicht dazu führen, die Hamas zu verdammen, sondern nur dem Haß gegen den alten Feind Israel neue Nahrung geben, steht außer Zweifel. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Netanjahu ein noch explosiveres Klima provozieren will, um – über kurz oder lang – mit den Palästinensern endgültig "aufräumen" zu können.

Jassir Arafat kann man derartige Blockaden des Friedensprozesses nicht vorwerfen. Er sprach sich nach beiden Anschlägen nicht nur entschieden gegen den Terror aus, sondern ließ seinen Worten Taten folgen in Gestalt mehrerer großangelegter Razzien palästinensischer Polizeieinheiten. Der echte Friedenswille Arafats wird besonders dadurch unter Beweis gestellt, daß er seit dem Anschlag vom 30. Juli sogar den "zweitgrößten Feind Arabiens", nämlich die Vereinigten Staaten, wiederholt um Vermittlung zwischen ihm und dem unversöhnlichen israelischen Ministerpräsidenten gebeten hat.

Doch auch in Washington gibt es nach wie vor wenig Verständnis für die in mehrerer Hinsicht heikle Situation Arafats. Aus dem Repräsentantenhaus wurde die Forderung erhoben, die Hilfen für das Autonomiegebiet drei Monate lang einzustellen. Dabei steckt man dort ökonomisch ohnehin schon in einer tiefen Krise, wofür Mißwirtschaft und Korruption ebenso verantwortlich zu machen sind wie der allgemeine Rückgang der Unterstützung des Auslands.

Netanjahu kündigte an, israelische Militäreinheiten würden künftig auch im autonomen Palästinensergebiet Razzien gegen Hamas-Aktivisten durchführen. Im Westjordanland haben israelischen Soldaten nach dem jüngsten Attentat bereits eine Probe aufs Exempel gemacht und 100 Palästinenser festgenommen. Zudem wurde nach einem Kabinettsbeschluß der weitere Truppenrückzug aus den Autonomiegebieten, der am letzten Sonntag hätte beginnen sollen, bis auf weiteres ausgesetzt. Netanjahu verkündete, daß es solange keinen Rückzug aus dem Westjordanland geben werde, "bis sich nicht die Haltung der Autonomiebehörde zum Terror dramatisch ändert". Er unterstellte, daß Arafat den jüngsten Anschlag durch seine versöhnliche Haltung gegenüber radikalen Palästinensern während der letzten "Konferenz der Nationalen Einheit" mitverschuldet habe. Das Fazit des israelischen Ministerpräsidenten spricht Bände: "Ich habe die Nase voll von Arafat." Damit verstößt er seinen einzigen Ansprechpartner auf seiten der Palästinenser.

Daß Israel dereinst die Gründung der Hamas selbst aktiv unterstützte, da es sich davon eine Spaltung der Palästinenserbewegung versprach, wird in der neu aufgeflammten Nahost-Diskussion häufig ebenso verschwiegen wie die Tatsache, daß es Benjamin Netanjahu war, der mit seiner aggressiven Siedlungspolitik das Abkommen von Oslo ("Land gegen Frieden") als erster gebrochen hat. Auch fehlt die Erinnerung daran, daß es die israelische Armee vor der Bildung des Autonomiegebietes selbst nie geschafft hatte, den Terror gänzlich zu unterbinden. Nun kann man die Erledigung dieser Aufgabe schwerlich von den kleinen palästinensischen Polizeieinheiten erwarten.

Es stellen sich vor allem zwei Fragen: Warum gibt es – nach längerer Pause – wieder vermehrt Selbstmordattentate, und wer verspricht sich von einer radikalen Polarisierung in Nahost den größten Nutzen? – Als Antwort auf die erste Frage ließe sich ein ägyptischer Journalist zitieren, der im Juli die aktuelle Entwicklung in Israel wie folgt zusammenfaßte: "Wenn die Israelis den Palästinensern durch immer neue Siedlungsprojekte den Krieg erklären, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn ihnen der Krieg gemacht wird." Was die zweite Frage betrifft, so muß man sich ins Reich der Spekulation begeben. Auf jeden Fall hat die Regierung Arafat in bezug auf das Selbstmordattentat Ende Juli betont, daß es Hinweise dafür gebe, daß es sich um Täter aus dem Umfeld jüdischer Extremisten handle. Letzteren liegt in der Tat genauso viel daran, die Lage in Israel und Palästina weiter zu destabilisieren wie den Aktivisten der Hamas etc. Nicht vergessen darf man schließlich das in der Wahl der Mittel nicht eben zimperliche Engagement Syriens und des Iran in der Region.


 
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