© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
John Cage: Der amerikanische Komponist wäre am 12. September 85 geworden.
Der musikalische Klang der Stille
von Art-Oliver Simon

Um die Musik und die Person des amerikanischen Komponisten John Cage, der sich besonders nach dem Zweiten Weltkrieg neben Künstlern wie den Malern Jasper Johns, R. Rauschenberg, dem Choreographen Merce Cunningham und dem Dichter E. E. Cummings zu einem führenden Vertreter der amerikanischen Avantgarde entwickelte, ist es fünf Jahre nach seinem Tode ruhiger geworden. Nachdem die Grabreden und Elogen von Komponisten, Musikern, Kritikern dazu genutzt worden waren, sich in den öffentlichen Vordergrund zu schieben und kein Festival Neuer Musik ohne ein Werk des angebeteten verstorbenen Meisters stattfinden durfte, hat die Zeit der geistigen Aufräumarbeit begonnen, deren Ende nicht abzusehen ist und die vor allem eines offenbart: die Leere, die sein Werk hinterläßt, ein nach beiden Seiten offener Hohlraum zwischen Schweigen und Sprechen. John Cage hat die Stille wie selbstverständlich als einen festen Bestandteil der Musik neben anderen Parametern betrachtet. Schweigen und Sprechen gehörten für ihn so zum Leben wie Essen, Teetrinken, Schlafen. Seine Gespräche mit befreundeten Musikern, Künstlern und Wissenschaftlern führte er zumeist am Telefon, auf Proben wirkte er oft hilflos und sagte meist zu allem Ja und Amen, nur um die auf seine Ratschläge wartenden Musiker zufriedenzustellen. Viele seiner öffentlichen Auftritte ähnelten dadaistischen Happenings, so wie er es von seinem Vorbild, dem französischen Komponisten Satie, gelernt hatte. Die Grenzen zwischen den Kunstgattungen waren für ihn fließend, eine eindeutige Abgrenzung hat er nie akzeptiert. Unter seinen Werken befinden sich neben der Musik auch Essays und Bücher. Als grenzüberschreitender Geist beherrschte er das Spiel mit der Verunsicherung über die als unverrückbar angesehenen Kunstformen.

Wo andere sich als Weltveränderer gebärdeten oder ihre Musik in großen Effekten und Tremolos schwelgen ließen, gab er seinen letzten vollendeten Werken einfach Nummern, ähnlich wie die Straßen seiner Heimatstadt New York. Erkennen hieß für ihn vor allem eines: Nichtverstehen, die Dinge gewähren lassen, die Aufmerksamkeit gegenüber dem Eigenleben der Klänge. Deshalb auch die überflüssige Frage nach der Individualität des Schöpfers, conditio sine qua non, um sich im sensations- und imagehungrigen Musikleben unserer Tage zu behaupten. Psychologische Ansätze etwa in der Nachfolge Sigmund Freunds, sein Innenleben in der Musik einem vom Alltag frustrierten Publikum zur Schau zu stellen, waren ihm fremd.

John Cage: Erfinder des musikalischen Zufalls und radikaler Erneuerer der herkömmlichen, seit mehr als drei Jahrhunderten gültigen europäischen Notenschrift. Seine kreativen Anregungen holte er sich aus dem chinesischen "Buch der Wandlungen" ("I ging") und setzte dessen Gesetze in eine neue musikalische Klangwelt um. Er ließ Münzen und Würfel über die Form eines Musikstücks entscheiden, viele seiner Kompositionen bestehen eher aus einer losen Blättersammlung oder einzelnen Stimmen denn aus einer zusammenhängenden Partitur. Die Stellung des Notenpapiers auf seinem Schreibtisch, eine Unebenheit oder ein Knick konnten für ihn zum Ausgangspunkt einer neuen musikalischen Idee werden, eine auf den Kopf gestellte Skizze war ihm oft mehr wert als eine nach akademischen Regeln gefertigte Partiturseite. Nach Belieben verwendete er komplexe rhythmische Zahlenreihen, mit denen er zuerst in seiner Auseinandersetzung mit der indischen Musik und ihren zum Teil endlos langen talas Bekanntschaft machte.

Musik als Abenteuer und Entdeckungsreise, als buchstäbliche Suche eines schwarzen Flecks auf der weißen Landkarte bildeten die Fixpunkte seines Schaffens ("Imaginary landscape" heißt der Titel seiner frühen Werkserie), von seinen Nachahmern blind bewundert, die er nicht selten mit seinen sich widersprechenden Äußerungen und Resultaten in die Irre geführt und zum Verstummen gebracht hat, von seinen Gegnern vor allem aus Europa, die das geheiligte, in sich ruhende und abgeschlossene musikalische Werk des musikliebenden Bürgertums in seiner Substanz und Ewigkeit gefährdet sahen, als Scharlatan und Dilettant diffamiert. Sein Konzeption des musikalischen Werkes markiert den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, von der autoritätsgläubigen Statik der bürgerlichen Gesellschaft mitsamt ihrer aus der Aufklärung überlieferten Optimismus hin zur Massendemokratie des ausgehenden 20. Jahrhunderts, zur Bedrohung und Auflösung aller existierenden Werte. Sein Werk steht für die Aufhebung aller musikästhetischen Verbote. Alltagsgeräusche und elektronische Klänge stehen dem Komponisten heute selbstverständlich und gleichberechtigt neben allen konventionellen Instrumentalklängen als musikalisches Material zur Verfügung. Gleichzeitig bedeutet diese bedingungslose Freiheit der Musik und die gigantische Explosion der Ausdrucksmöglichkeiten, die nicht zuletzt den Werken John Cages zu verdanken ist, für den modernen Künstler auch ein gestiegenes Maß an Eigenverantwortung, weil es heute nicht mehr so einfach wie früher ist, sich an bestehenden ästhetischen Tabus als kreativer Reibefläche abzuarbeiten. Modern sein kann nur derjenige, der die Postmoderne überholt. Schöpferisch zu sein heißt heute, die – im Kern – graue Alltagslangeweile des bunten Nebeneinanders und der gleichgültigen Beziehungslosigkeit zu besiegen, die Kunst des Aussparens zu beherrschen, nichts zu sagen, was möglich ist, sondern nur das Nötige zu tun.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen