© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
Tamagotchi: Wenn das virtuelle Haustier in der Hosentasche piepst und schreit
Füttern auf Knopfdruck
von Ernst Fröhlich und Frank Liebermann

Schnuffi muß nicht mehr Gassi geführt, Minkas Katzenklo nicht mehr gereinigt werden. Selbst das Klonen des erst von uns gegangenen Waldi ist – kaum, daß es möglich wurde – schon wieder außer Mode, denn jetzt gibt es endlich den Ersatz für Haustiere. Sein Name: Tamagotchi! Früher entsprangen aus der Welt der Computerspiele Helden wie Duke Nukem, Super Mario oder Lara Croft, die in ihren animierten Welten mit Kettensägen, fliegenden Bananen oder Lasergewehren Wundertaten vollbrachten. Heute erblickt "es" auf Knopfdruck das Licht des kleinen Flüssigkristall-Monitors und verhält sich gleich so aufdringlich, wie es sich kein animalischer Hausgenosse erlauben dürfte: Es piepst, um seinen Besitzer dazu abzurichten, es per Knopfdruck zu füttern, es muß virtuell spazieren geführt werden, um seine virtuelle Notdurft virtuell zu verrichten, es muß schlafen gelegt werden, und Wickeln wird endlich hygienisch, denn ein Knopfdruck beschmutzt weder, noch stinkt er. Sogar das Streicheln erledigt die Minimaschine auf Befehl per Daumendruck.

Der Vorteil des virtuellen Tierchens liegt darin, daß sein Herrchen gezwungen ist, das Verhalten des Computers zu akzeptieren – sämtliche Wutausbrüche und Embargosanktionen führen nämlich dazu, daß Tamagotchi mutiert. Zum Beispiel zum "Masuku-Chi, welches lange schläft und sehr egoistisch ist. Wenig mühe macht auch "Myoru-Chi", das eine sehr kurze Lebenserwartung hat. Besonders toll ist das "Tarako-Chi". Es piepst zu den unmöglichsten Zeitpunkten, schläft zu völlig beknackten Zeiten und tut alles, um seinem Besitzer auf die Nerven zu gehen. Andere sterben einfach aus Protest. In diesem Fall hilft nur eine Beisetzung auf einem virtuellen Friedhof, der eigens dafür im Internet angelegt wurde. Auf Knopfdruck tanzt aber gleich das nächste Vieh aus dem Kasten, und das Theater beginnt von neuem. Aber Wurscht, denn wenn der Bock auf Zuneigung vergeht, mißbraucht man Tamagotchis berechnetes Vertrauen in die Dummheit der Welt einfach mit kaltblütigem Mord. Die Dinger sind ja ersetzbar. Die Seuche begann erst vor wenigen Monaten in Japan, eroberte binnen weniger Wochen den neurotischen nordamerikanischen Kontinent, und von dort – weil alles Coole von dort kommt – schwappte die Welle nach Mitteleuropa über.Wie kommt es aber, daß das Gehirn des Homo sapiens sapiens im ausgehenden 20. Jahrhundert schon so degeneriert ist, sich von einer elektronischen Eieruhr dressieren zu lassen?

Die Gründe liegen einerseits freilich darin, daß es die Mode ist und die Kids dressiert. Erst wer sich anständig zum Affen macht, ist modern. Andererseits aber wird Tamagotchi zum ausgleichenden Instrument für die Unfähigkeit zu zwischenmenschlichem Umgang in den Großstädten. Wo Mama und Papa nur streiten, brauchen "Teenie-Girlies" – die Hauptabnehmer der neuen Psycho-Keule – jemanden, mit dem sie zärtlich umgehen können, der sie braucht und immer für sie da ist.

Dieses Phänomen verbindet sich mit einem weiteren Vorgang, den die Medienwirkungsforschung "Eskapismus" nennt. Er bezeichnet die Flucht pubertärer Jugendlicher aus der Realität, mit der sie noch nicht umzugehen gelernt haben. Da bei kommen vor allem Medien in Frage, die eine größtmögliche Flucht in eine andere Welt anbieten. Zu deutsch: die Glotze und Computerspiele. Richtig krank wird die Sache aber erst, wenn das "cyber-pet" auf den Plan tritt. Denn "cyber-pet" ist ein extrem widerstandsfähiges Wesen, bei dem es – im Gegensatz zu Tamagotchi – darauf ankommt, es möglichst rasch um die Ecke zu bringen. Auch hier ist bereits ein Gottesacker im Internet angelegt, Grabsteine und Blumenkränze kann man sich unter anderem auch auf der Homepage eines buddhistischen Tempels in Hiroshima aussuchen. Überflüssig zu erwähnen, daß Bandai, die japanische Firma, die Tamagotchi ins Leben rief, mit einer Antwort nicht lange auf sich warten läßt. In Zeiten, in denen Dinosaurier über die Leinwände der Kinos flimmern, dürfen urzeitliche Echsen in den Taschen der Kinder nicht fehlen: Die neue Tamagotchi-Serie macht seinen Käufer zum Trainer eines Kampf-Sauriers.

In drei Stufen zieht man das Mini-Monster auf, ab Stufe II kann es gegen einen anderen Saurier kämpfen, indem man zwei dieser Geräte verbindet. Nach einem solchen Duell schafft man sich entweder einen neuen Saurier an, oder man päppelt den alten Dino wieder auf. Wann der erste "alien-creator" auf den Markt kommt, ist nach der geglückten Marslandung wohl nunmehr eine Frage von Wochen, denn der Markt ist groß: allein bis Ende Juni 1997 wurden weltweit 10 Millionen Tamagotchis verkauft.

Die Moral von der Geschichte: Der größte progressive Schwachsinn ist gerade noch gut genug, um sich im galoppierenden Zeitgeist nicht hinten anstellen zu müssen.


 
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