© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/97  12. September 1997

 
 
Verlust der Distanz
Kommentar von Hans B. von Sothen

Da weinten Menschen in London ungehemmt auf den Straßen. Und was taten die "Royals"? Sie schwiegen einfach. Keine Ansprache, keine Presseerklärung zum Tode Lady Diana Spencers. Noch nicht einmal der Union Jack auf Halbmast. Das Massenblatt Mirror tat entsetzt: "Gibt es ein Herz im Hause Windsor?" Die Königin lenkte schließlich ein und tat, was die Medien verlangten. Die Betroffenheitsgesellschaft hatte auch Großbritannien erreicht.

Natürlich hat sich die königliche Familie nicht immer gut verhalten. Aber verglichen mit den Eskapaden eines Heinrich VIII. oder den Mätressengeschichten eines Georg II. muten die Affären des heutigen Hauses Windsor doch eher wie ein Kapitel aus Hanni und Nanni an. So what? Kann man nicht den Mantel des Erbarmens darüberhängen? Man kann offenbar nicht. Oder nicht mehr. Nicht zufällig fällt der Anfang des öffentlichen Lebens der Lady Diana zeitlich etwa mit dem Regierungsantritt von Margaret Thatcher zusammen. Damals begann eine neue Ära, die mit elementarer Gewalt alles umwarf, was den Briten bis dahin unumstößlich erschien. Die Premierministerin räumte erfolgreich auf. Veraltete Strukturen in Staat, Parteien und Gewerkschaften wurden rigoros umgekrempelt, um Großbritannien die Chance auf eine Zukunft zu geben.

Aber es gab auch eine Kehrseite. Der Essex-man, konservativ, aber mit Ellenbogen und proletarischen Manieren, eine Art politischer Mantafahrer also, wurde stilgebend für die frühere Partei der Oberschicht und derjenigen, die dazugehören wollten. Jahrhundertealte ungeschriebene Gesetze brachen zusammen. Das galt auch für den Journalismus. In der Presse stand für diesen Stilwechsel der Großverleger Rupert Murdoch. Auch er ein Kind der Thatcher-Ära, ein Parvenü, der nicht nur britische Massenblätter aufkaufte, sondern auch die legendäre Times. Rücksichten aus Staatsräson gegenüber der Königsfamilie, wie sie bis dahin in allen britischen Medien selbstverständlich waren, gab es nun nicht mehr. Die Royals haßten ihn. Er haßte auf seine Weise zurück.

Diana war aber auch Exponentin der jungen britischen Oberschicht der Thatcher-Zeit, der Sloanes – benannt nach einem Platz im exklusivsten Teil Londons. Sie stand für eine neue, weltoffenere Generation. Aber der alte Grundsatz Never explain, never complain: nie sich erklären – nie sich beschweren, ging verloren. Die Medien haben das brutal ausgenutzt. Die als hartherzig und antiquiert gescholtene Königin mochte manchmal unnahbar erscheinen, aber sie hat immer auf Distanz geachtet. Eine Distanz, die, wie das schreckliche Beispiel von Lady Diana gezeigt hat, in einer Gesellschaft ohne Verhaltenskodex buchstäblich lebensnotwendig ist.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen