© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/97  19. September 1997

 
 
Christoph H. Werth: Sozialismus und Nation
Suche nach dem dritten Weg
Rezension von Michael Wiesberg

Die Studie "Sozialismus und Nation" von Christoph Werth verspricht Brisanz, thematisiert der Autor doch die versuchte Synthese der Begriffe "Nation" und "Sozialismus" in der Zeit der Weimarer Republik. Werth zieht die Schriften der zentralen Vertreter dieser Diskussion heran: Friedrich Naumann, Ferdinand Tönnies, Oswald Spengler, Moeller van den Bruck, Walther Rathenau, Ernst Niekisch, Ernst Jünger und Werner Sombart. Das "erkenntnisleitende Interesse" für den Autor ist die Frage, "wie Sozialismus und Nationalismus zusammengeführt werden".

Von weitreichender Bedeutung für alle von Werth angeführten Autoren sind die Schriften Oswald Spenglers. Insbesondere seine Argumentationsfigur, daß sich in Europa zwei große philosophische Schulen gegenüberstehen würden: die englische, die durch "Individualismus und Egoismus" bestimmt ist und die preußische Schule des Idealismus. Preußen wird von Spengler als Idee der "überpersönlichen Gemeinschaft" bestimmt. Es wird aus der Sicht Spenglers vom "Gemeingefühl der Aufgabe" und nicht nach englischer Manier vom Ziel des privaten Erfolges und Glücks bestimmt.

Die von Spengler vorgenommene Verhältnisbestimmung von Gesellschaft und Gemeinschaft, exemplifiziert an der preußischen und englischen Schule, steht bei fast allen Autoren im Mittelpunkt. Dabei eint sie die Auffassung, daß der Gemeinschaft eine höhere Bedeutung zukommt.

Die Emanzipation der Individuen von allen Bindungen, konstatiert der Soziologe Tönnies am Beispiel des Untergangs des römischen Weltreiches, habe zum "Sieg des Egoismus, der Frechheit, der Lüge und Künstelei, der Geldgier, der Genußsucht, des Ehrgeizes" geführt. Daher ist für Tönnies das Individuum und seine Emanzipation der Beginn allen Übels, die "Voraussetzung der Gesellschaft". Gemeinschaft hingegen wird als identisch mit "sozialer Gesinnung, Veredelung des Gemütes und Bildung des Gewissens" beschrieben. Bei Tönnies findet sich damit bereits im Jahre 1887 jenes Begriffspaar, das Thomas Mann 1918 mit dem Gegensatz von "Zivilisation und Kultur" umriß.

Walther Rathenaus Gedanken kreisen um einen möglichen dritten Weg zwischen "individualistisch-anarchischem Manchester-Kapitalismus" und bolschewistischem Sozialismus: "Wir werden euch einen Staat aufrichten", schrieb Rathenau, "der sachlicher, organischer, gerechter, freier und leistungsfähiger ist als jeder andere Staat, der sich der neuen Wirtschaftsform anpaßt und alle Kräfte der deutschen Arbeit entfaltet". Rathenau plädiert für eine "staatliche Lenkung und Mitwirkung", so daß "Wirtschaft als unmittelbare Staatshandlung" begriffen und erkennbar wird.

Für Arthur Moeller van den Bruck ist der westliche Liberalismus der Hauptgegner. Liberalismus – wirtschaftlich gesehen – bedeutet "die Selbstschädigung durch grundsätzlichen Freihandel". Deutschland empfiehlt Moeller einen dritten Weg, einen "deutschen Sozialismus" bzw. eine "nationale Kameradschaft". Moeller bekennt sich zu Spenglers Konzept des "preußischen Sozialismus", das "auf Arbeit gegründet" sei und der "Inbegriff des Sozialistischen" überhaupt sei.

Im Zentrum von Ernst Niekischs Denken stehen die "imperialen Figuren" Jude und Römer, die sich in Rom, Paris, Washington und London verkörpern. Sie impften den Völkern ihre Gesinnungen ein, denen die "barbarischen Mächte" Preußen und (das bolschewistische) Rußland entgegenstünden. Für Deutschland folge aus dieser Konstellation, so schließt Niekisch, daß es sich nur gegen den Westen sinnvoll positionieren könne.

Auf eine Synthese von Nationalismus und Sozialismus laufen die Ideen des "Tat"-Kreises hinaus, der in den Jahren 1929 bis 1933 seine größte publizistische Wirksamkeit entfaltete. Auch für den "Tat"-Kreis sind die Gedanken Oswald Spenglers von höchster Bedeutung. Hans Zehrer, einer der Köpfe des Kreises, interpretierte den Marxismus als letzte allgemeine Zerstörungstendenz des verhaßten Liberalismus, da die "Nivellierung des Geldes, des Reichtums, des Besitzes" das einzig Verbliebene sei, was "man der Masse noch vorwerfen" und ausliefern könne. Den widerstreitenden Interessen und Gruppen der Weimarer Republik setzte der "Tat"-Kreis die "Volksgemeinschaft" entgegen, die er von einem "mystischen Band" umschlossen sieht. Nur mit einem "nationalen Mythos" könne der Feldzug gegen die inneren und äußeren Feinde bestanden werden.

Dezidiert gegen den Kapitalismus wendet sich Werner Sombart, weil dieser die "Volksgemeinschaft" zerstört. Der Kapitalismus führt in eine "kalte Interessengesellschaft". Er fördere zwangsläufig Spezialinteressen und begreife das Interesse der Gemeinschaft immer nur als Summe individueller Einzelinteressen.

Sind die Ausführungen Werths bis hierhin noch als durchaus informativ zu bezeichnen, muß sein Kapitel über den Nationalsozialismus schlichtweg als ärgerlich bezeichnet werden. Einige Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen: Da ist zunächst die abenteuerliche Vereinfachung der Auffassungen Hitlers zur sozialen Frage: Alles drehe sich, so Werth, "auf diesem Feld (der politischen Auseinandersetzung zwischen Arbeiter und Unternehmer, d. Verf.) nur um seine (Hitlers, d. Verf.) Idee des sozialdarwinistischen Rassenkampfes". Als Beleg wird nicht etwa eine Äußerung Hitlers herangezogen, sondern eine Wertung Karl Dietrich Brachers, der bei Werth über allen Wassern schwebt.

Daß diese Darstellung nicht aufrechtzuerhalten ist, hat neben anderen Rainer Zitelmann aufgezeigt, den aber Werth nicht sachlich zu rezipieren mag. Nach Lage der Dinge ist diese Rezeptionsverweigerung verständlich, hätte doch Werth sonst seine Ausführungen zur NS-Zeit grundsätzlich revidieren müssen. Widersprüche wie den folgenden klärt er nicht auf: "Obwohl Hitler die Masse verachtet und einem sozialdarwinistischen Elitendünkel anhängt, preist er das Modell der Volksgemeinschaft als das Allheilmittel gegen soziale Verwerfungen" an.

Weil er sich diesen Facettenreichtum des nationalsozialistischen Staates nicht erklären kann, müssen ihm dessen politische Konzeptionen als "Realsatire", als "Parodie von Politik" erscheinen. Wie erklärt er sich aber, daß diese "Realsatire" die Welt zwölf Jahre lang in Atem halten konnte? Da reicht es eben nicht hin, nur auf der "Demagogie" der NS-Größen herumzureiten.

Werth muß sich weiter vorwerfen lassen, die Kriterien wissenschaftlicher Seriosität nicht erfüllt zu haben. Dazu ein Beispiel: Werth stellt fest, daß der zweite Vierjahresplan der Nationalsozialisten nur zwei Jahre in Kraft war. "Danach folgten neue Direktiven, die sich noch stärker an Wehrmacht und Krieg orientierten." Als Beleg wird ein Erlaß vom 21. März 1942 (!) zitiert, in dem zu lesen steht: "Den Notwendigkeiten der Rüstungswirtschaft haben sich die Belange der deutschen Gesamtwirtschaft unterzuordnen."

Diesen für einen Staat, der sich im Krieg befindet, normalen Erlaß als Beleg für die obige Behauptung zu benutzen, ist schlichtweg unseriös. Werth scheint überdies entgangen zu sein, daß Hermann Rauschnings erdichtete "Gespräche mit Hitler" wissenschaftlich nicht mehr zitierfähig sind. So einfach, wie es sich Werth mit dem Nationalsozialismus macht, ist diesem Phänomen nicht beizukommen. MiChael WiesberG

 

Christoph H. Werth: Sozialismus und Nation, Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, 388 Seiten, Kart., 59,– DM


 
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