© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/97  19. September 1997

 
 
Volksgeister
Kolumne von Karheinz Weißmann

Schottland hat gewählt. Was es in einer Volksabstimmung gewählt hat mit der Dreiviertelmehrheit für ein eigenes Parlament, wird erst die Zukunft zeigen. Immerhin scheinen sogar die Autonomisten und selbst die Separatisten in der Schottischen Nationalpartei SNP – die hartnäckigsten Verfechter der Selbständigkeit – fürs erste zufriedengestellt. Alle Beteiligten müssen sich nun um die Ausgestaltung der devolution kümmern, und die Schotten werden kritisch beobachten, ob nur neue steuergeldverschlingende Zwischenebenen der Administration entstehen, oder ob hier tatsächlich etwas geschieht zur Verbesserung der politischen Lage und der Vertretung ihrer Interessen, dreihundert Jahre nach dem Ende ihrer Souveränität. Für die übrigen Europäer dürfte vor allem aufschlußreich sein, in wieweit mit dieser Abstimmung und der folgenden in Wales die Regionen gegen die Macht der Brüsseler Zentrale gestärkt werden. In Deutschland schenkt man den schottischen Angelegenheiten normalerweise wenig Aufmerksamkeit, obwohl es so etwas wie eine alte Liebe zu den keltischen Völkern im allgemeinen und den Schotten im besonderen gibt. Das gilt nicht erst, seitdem die Zeitungen der Bundesrepublik im vergangenen Jahr von der Rückgabe des Steins von Scone Notiz nahmen, sich Sean Connery als Parteigänger der SNP entpuppte und Mel Gibson als "Braveheart" auf der Leinwand an der Spitze der Clans kämpfte und scheiterte; die Sympathie reicht zurück bis zu Goethes Begeisterung für die (angeblichen) Gesänge Ossians, bis zu Scotts populären Romanen, etwa dem "Quentin Durward", und bis zu den Genrebildern des frühen 19. Jahrhunderts, die Szenen aus den highlands zeigten.

Wahrscheinlich hing die Sympathie immer mit dem Gefühl einer gewissen Ähnlichkeit der "Volksgeister" zusammen: dem rabiaten Individualismus und dem Zug ins Tragische, der Erinnerung an eine stolze Geschichte bei kläglicher Gegenwart, der Scham über den Grad innerer Uneinigkeit, die Häufigkeit des Verrats und allzuwillige Kollaboration mit dem siegreichen Feind.

Die Idee des "Volksgeistes" ist natürlich romantisch und poetisch. Aber vielleicht ist bei der Schaffung einer eigenen Parlamentskammer in Edinburgh zuletzt Poesie wichtiger als das Amt des first minister und ein wie auch immer beschränktes Steuerrecht. Auf Poesie, hieß es in der Vergangenheit, sei die Sicherheit der Throne gegründet; mit der Sicherheit der Nationen verhält es sich kaum anders.


 
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