© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/97  19. September 1997

 
 
Herzogs Rußlandbesuch: Hintergründe des präsidialen Abstechers nach Samara
Weichenstellung im Wolgagebiet
von Martin Schmidt

Daß Bundespräsident Herzog während seines Rußlandbesuches Anfang September von Moskau aus ausgerechnet den Weg in das 850 Kilometer südwestlich gelegene Samara antrat, hatte selbstverständlich seine Gründe. So sollte dem Gast und mit ihm der deutschen Wirtschaft eine vergleichsweise intakte Kommune präsentiert werden: Die an der unteren Wolga gelegene Industrieregion Samara gehört zu den wenigen der 89 Gebiete der Föderation, die nicht aus dem Bundeshaushalt subventioniert werden.

Zu Zeiten der UdSSR trug die Millionenstadt den Namen des Sowjetpolitikers Kujbyschew. In den Kriegsjahren 1941/42 hatte Stalin kurzzeitig seinen Regierungsapparat aus dem durch den schnellen Vorstoß der Wehrmacht gefährdeten Moskau hierher verlegt. Später gehörte "Kujbyschew" wegen der örtlichen Raumfahrt- und Rüstungsbetriebe zu den geschlossenen Städten.

Für Roman Herzog öffneten sich nun die Tore zum Raumfahrtproduktionswerk "Progress"; vorher jedoch nahm er an einer Andacht in der wiedereröffneten lutherischen Kirche teil. Mit dieser Geste an die Rußlanddeutschen deutete er zugleich den wohl wichtigsten Hintergrund für die Berücksichtigung der Wolgastadt im Besuchsprogramm an: Samara ist als neuer Standort für ein deutsches Generalkonsulat im Gespräch, und zwar anstelle von Saratow.

In Bonn wird beteuert, daß noch keine Entscheidung gefallen sei, doch mit dem Herzog-Besuch sind die Weichen wohl endgültig in Richtung Samara gestellt worden.

Schon im Januar hieß es aus der Deutschen Botschaft in Moskau, daß das am anderen – östlichen – Wolgaufer rund 350 Kilometer nordöstlich von Saratow gelegene Samara der "interessantere Standort" sei, vor allem wegen der zentralen Lage an einem wichtigen Verkehrsweg zwischen dem östlichen Europa und Sibirien bzw. Mittelasien.

Auch wenn die Diskussion über einen Konsulatsumzug bisher betont "tief gehängt" wird, so wäre die Angelegenheit im Falle der Verwirklichung der Pläne doch von erheblicher symbolischer Bedeutung. Schließlich war Saratow stets eine Art Synomym für die rußlanddeutsche Kolonisation im Wolgagebiet insgesamt, wenngleich die Stadt nie – was häufig behauptet wird – als Hauptstadt der 1924 proklamierten Autonomen Sozialistischen Sowjet-Republik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) fungierte. Aber in Saratow befand sich nach den Manifesten der Zarin Katharina II. das für die Angelegenheiten und Rechte der Kolonisten zuständige "Tutel-Kontor". Und hier hatte sich schon Ende des 19. Jahrhunderts eine ökonomisch wichtige Metropole mit großer Bedeutung für die benachbarten bäuerlichen Kolonistendörfer herausgebildet, die bis zum Ersten Weltkrieg auch als intellektuelles Zentrum der Wolgadeutschen mehr und mehr Ausstrahlungskraft gewann.

Ende des 19. Jahrhunderts war das 1590 gegründete Saratow durch seine Mühlenindustrie für die Wirtschaft des ganzen Zarenreiches von Bedeutung. Man knüpfte umfangreiche Handelsbeziehungen sogar mit west- und mitteleuropäischen Ländern, wofür sich insbesondere der kleine, aber sehr aktive Bevölkerungsanteil deutscher Abstammung (1897: ca. 5.500 Personen, 1915: zwischen 19.000 und 20.000 = 6,7% der Stadtbevölkerung) verantwortlich zeichnete. Namen wie die der Handelshäuser Borell, Schmidt und Reineke gingen damals "um die Welt". Schon 1912 wurde in Saratow erstmals ein Deutsches Konsulat eingerichtet.

Diese Stadt hat für die Geschichte der Wolgadeutschen zweifellos eine ungleich größere Bedeutung als das 1586 gegründete Samara. Zwar waren beide Orte als Gouvernementsstädte in der Zarenzeit zuständig für die Verwaltung eines Teils des Hauptsiedlungsgebietes an der Wolga: nämlich Saratow für die "Bergseite" und Samara für die "Wiesenseite". Aber im direkten Umland von Samara gab es nur eine relativ kleine Kolonisation westpreußischer Mennoniten, die sich dort zwischen 1854 und 1861 niedergelassen hatten.

Nicht zuletzt steht die Tatsache, daß infolge der Perestrojka neben der deutschen Botschaft in Moskau und den Generalkonsulaten in St. Petersburg und Nowosibirsk auch ein Konsulat in Saratow eingerichtet wurde, in Verbindung mit dem zeitweiligen Versuch, im Zuge der politischen Neuentwicklung an das historische Erbe einer rußlanddeutschen Autonomie in dieser Region anzuknüpfen. Dieser anfangs mit viel Enthusiasmus verbundene Plan, der auf eine größere Rücksiedlungswelle deportierter Wolgadeutscher setzte, ist bekanntlich gründlich gescheitert. Die Widerstände der russischen Zentrale in Moskau bzw. der regionalen Sowjetfunktionäre in Saratow und Teilen der Bevölkerung vor Ort erwiesen sich als zu mächtig.

Im Gebiet Saratow leben heute unter insgesamt 2,7 Millionen Einwohnern nur rund 50.000 Deutsche; in Samara sind es wenige Tausend. – Wenn nun der deutsche Generalkonsul in Saratow tatsächlich seine Koffer packen sollte, so würde die Bonner Politik damit zweifellos auch der Tatsache Rechnung tragen, daß siedlungspolitisch für die Rußlanddeutschen im alten Autonomiegebiet nicht mehr viel zu holen ist.

Dieses Negativ-Fazit gilt in ähnlichem Maße für die anderen nach 1989 mit großen Erwartungen gestarteten Ansiedlungsprojekte in Westsibirien, im Altaigebiet, in der Ukraine und bei St. Petersburg. Herzogs am 2. September in der Moskauer Begegnungsstätte für Rußlanddeutsche zur Schau gestelltes hoffnungsfrohes Bild, daß diese Bevölkerungsgruppe "ihr Können und ihren sprichwörtlichen Fleiß zum Nutzen des Landes einbringen und damit auch eine Brücke zwischen unseren Ländern" darstellen könnte, ist nichts anderes als ein Traumbild. Aus der Sicht der großen Masse der noch immer gut zwei Millionen Rußlanddeutschen gibt es längerfristig nur die Entscheidung zwischen Aussiedlung oder Assimilation. Um Herzogs Wunsch, es solle "auch künftig eine bedeutende deutsche Volksgruppe in Rußland" geben, zu realisieren, müßte die Bonner Politik die vollmundig beschworene "offene Tür" sofort dichtmachen. Herzog lehnt eine solche Abkehr von der "Verantwortung" der Bundesrepublik Deutschland für die Landsleute (noch) ab, obwohl er natürlich weiß, daß immer mehr seiner Politikerkollegen – einschließlich des Kanzlers – bereits zur Klinke greifen.

Was in der Wolgaregion nach der nicht mehr zu korrigierenden Zerstörung der wolgadeutschen Autonomie aus deutscher Sicht übrigbleibt, sind vor allem anderen die Interessen der Wirtschaft; und in dieser Hinsicht verspricht das nicht von ungefähr mit der "Ländle"-Hauptstadt Stuttgart partnerschaftlich verbundene Samara gute Rahmenbedingungen. Letzteres unterstrich auch Herzog, indem er seinen Besuch mit der Eröffnung eines "Wirtschaftstages" zur Werbung deutscher Investoren abrundete.


 
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