© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/97  26. September 1997

 
 
Hamburg: Der SPD laufen ihre Stammwähler in Scharen davon
Ein soziales Debakel
von Hans-Peter Rissmann

Es hätte nicht mehr viel gefehlt und in Hamburg hätte die SPD ihre Stellung als stärkste Partei bei den Bürgerschaftswahlen verloren. In Scharen liefen die Wähler der Partei, die Hamburg fast ununterbrochen seit Kriegsende regiert, zur CDU und zu Rechtsparteien über. Von einst über 60 Prozent stürzte die vormalige Arbeiterpartei auf vernichtende 36,2 am vergangenen Sonntag ab. Seit Jahren betreibt die SPD eine Politik an ihrer eigenen Klientel vorbei. Nicht der Euro, nicht die innere Sicherheit im engeren Sinne, sondern die soziale Frage entschied die Wahl in Hamburg. In den sozialen Brennpunkten fühlen sich die Menschen von ihrer Stadtregierung im Stich gelassen. Hamburg hat eine der höchsten Verschuldungsraten pro Kopf und seine Arbeitslosenrate ist katastrophal. In traditionellen Arbeitervierteln mit hohem Ausländeranteil wie Billstedt, Wilhelmsburg oder Harburg können daher die traditionellen SPD-Wähler mit den Multikulti-Parolen ihrer Genossen aus den besseren Stadtteilen nichts anfangen. Ihre Fragen wurden immer wieder bagatellisiert oder als rassistisch abgeblockt. Sie spüren vor Ort, daß irgendetwas nicht stimmt mit der immer wieder vorgetragenen These, daß Ausländer ihnen die Arbeitsplätze nicht wegnehmen.

Und Hamburg hat seit vielen Jahren Ärger mit dem Drogenhandel. Der Hauptbahnhof, das Schanzenviertel und der Stadtteil St. Georg sind von Dealern und der damit zusammenhängenden Prostitution okkupiert worden. In aller Öffentlichkeit und buchstäblich vor den Augen der Polizei wird mit harten Drogen gehandelt. Die Drogenhändler sind vor allem Afrikaner, die sich den Markt mit Kurden und anderen aufgeteilt haben. Diese Hauptproblembereiche werden von den Hansestädtern durch alle sozialen Schichten mit dem Ausländerproblem in Verbindung gebracht.

Dabei hätten die Law-and-order-Parolen des inzwischen zurückgetretenen Bürgermeisters Voscherau durchaus positive Resonanz haben können, wenn sie nicht erst wenige Wochen vor der Wahl aufgetaucht wären. "Ihr hattet doch vier Jahre lang Zeit! Die Zustände sind doch schon lange so", meint ein Hamburger. Die jahrelange Duldung der kriminellen Zustände hat viele Hamburger demoralisiert und zur Verzweiflung getrieben.

Wenn die CDU nun glaubt, sie befände sich in Hamburg und darüber hinaus im Aufwind, so ist das atemberaubende Augenwischerei. Vor vier Jahren befanden sich die Christdemokraten dank interner Querelen auf einem historischen Tiefpunkt von 25 Prozent. Ihr Zuwachs bringt sie nur auf das ohnehin bescheidene Durchschnittsniveau vergangener Jahre zurück. Kohl hat wahrlich keinen Grund, sich diesen Umstand gutzuschreiben.

Die Bilanz ist katastrophal: 30 Prozent der Wahlberechtigten gingen nicht zur Wahl. Von den Wählern schließlich haben fast 16 Prozent nichtetablierte Parteien gewählt. Fast 20 Prozent der abgegebenen Wählerstimmen sind wegen der Fünf-Prozent-Klausel unter den Tisch gefallen. Aber obwohl keine Protestpartei ins Parlament einziehen wird, sollten sich die etablierten Parteien nicht in Sicherheit wiegen. Denn sollte die SPD unter ihrem neuen Landesvorsitzenden, dem Alt-68er Ortwin Runde, ihre Lektion nicht lernen – und im Falle einer rot-grünen Koalition sieht es ganz danach aus –, werden sich auch die Ursachen für die Wahlverluste der Sozialdemokraten nicht ändern. Die alte Arbeiterpartei SPD wird sich das Wegbrechen eines erheblichen Teils ihrer Stammwählerschaft auf die Dauer nicht leisten können.


 
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