© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/97  26. September 1997

 
 
Ein Kanzler namens Euro
von Ilse Meuter

Helmut Kohl herrscht, aber er regiert nicht. Er stammt noch aus der guten schlechten alten Zeit. Als man Rindvieh hielt statt Fleischproduktion zu betreiben; als man Lederhose und Fahrtenmesser trug statt T-Shirts und Jeans; als mancher Tag mit einer Schußwunde begann und den Kindern per Nachtangriff die Eltern oder Großeltern abhanden kamen.

Auch Helmut Kohl war noch Hitlerjunge, Pimpf, kam freilich, dank des Angriffsschwungs der Roten Armee unter Stalin, um den Fahneneid auf den "Führer" herum, wie ihn die Weizsäcker, Schönhuber, Lambsdorff, Einsiedel, Scheel, Dregger und Helmut Schmidt zu schwören gehabt hatten. Die "Gnade der späten Geburt" kam dazu, und so hub, zeitgleich mit Gründung der BRD bzw. DDR, im durch alliierte Terrorbombardements devastierten Ludwigshafen die bemerkenswerte Laufbahn eines hochaufgeschossenen idealischen Jünglings an, der – im Kontext des politischen Katholizismus – früh beschlossen hatte, Politiker zu werden.

Unbeirrbar wie das die Ebene durchquerende Rhinozeros zog er seither dieses seines christdemokratischen Weges, und wenn er nicht gestorben ist, so heißt es, auf Kästnerisch, noch heute: er ist Berufspolitiker und auch sonst von mäßigem Verstande. Wenngleich der Stille im Lande, die Szene seit 1973 observierend, auf keinen Fall den Fehler begehen wird, "den Helmut" zu unterschätzen. Der Mann hat alles, was in jenem berufspolitischen Subsegment Erfolg verschafft, wie es sich in den nachbürgerlich-massendemokratischen Gesellschaften des europäischen Spätliberalismus mittlerweile herausgemendelt hat.

So wurde aus dem Parteienhistoriker (Kohls Dissertation behandelt die Enstehung der Rheinland-Pfälzischen Parteienlandschaft) am 3. Oktober 1990 eine historische Figur seiner Partei, der (die heißt tatsächlich so!) "Christlich-Demokratischen Union Deutschlands". Hatte sein politischer Großvater, Konrad Adenauer, sich noch entrüstet gegen den Schumacherschen PR-Gag gewandt, er, Adenauer, sei ein willfähriger "Kanzler der Alliierten", so dürfte der Helmut Kohl der neunziger Jahre dies als eine Art Ehrentitel beschmunzeln, der psychopolitischen Stimmung im Lande entsprechend.

Der Fünfzehn-Jahre-Kohl unserer Tage ist längst fleischgewordene Bild-Zeitung, freilich auch der inkarnierte FAZ-Spagat zwischen angloliberalem Politik-, US-liberalem Wirtschafts- und francophil-liberalkonservativem Kulturteil. (Die rechtsintellektuelle Leserbriefseite, der Rödelheimer Stammtisch quasi, wird lediglich im Umfeld von Bundestagswahlterminen bedient.) Vor exakt einem Jahr überholte er, gleichsam vaterlos, zumindest statistisch seinen Großvater Konrad, der mit 14 Jahren und 31 Tagen bislang die längste Amtsdauer vorzuweisen hatte. Am Ende des Jahrhunderts strebt der Koloß von Oggersheim eine weitere Legislaturperiode an, denn im renovierten Palast des Deutschen Reichstags zu Berlin soll sein Lebenswerk gekrönt werden. Wer zweifelte daran, daß das Wahlkampfschlitzohr, der halbgeniale Personalzocker Kohl auch 1998 die nötigen Prozente auf sich vereint?

Kohl ist das inkarnierte Führer-Prinzip, diesmal unter den Bedingungen des zunehmend an sich selbst ermüdenden "labilen Koalitionsparteienstaates" (Carl Schmitt), auf ihn wirft die konstitutiv antipolitische deutsche Kollektivseele ihre Sorgen, vor ihm, dem großen schwarzen Mann hat man keine Angst mehr, von ihm erhofft sich das Rettung, Heil und perennierte Prosperität. Er ist der Clan-Chef, der den Potlatsch ermöglicht, ein ununterbrochenes Fest, auf dem in Überfülle alles ausgeteilt und verzehrt, gar unvernünftig verschwendet wird, um die Götter zu besänftigen, den Stamm beieinanderzuhalten und zugleich dem Stammeschef die Möglichkeit zu bieten, seinen Primat zu legitimieren. Dafür lohnt es sich, Schulden zu machen. Die Politik ist, wie das Militärwesen, nichts als ein risikohaftes "System der Aushilfen" (Clausewitz), wer da als Prinzipienreiter auftritt, als Substanzler, Langfristler – den haut es schnell um.

"Unseren Helmut" (CDU-Eigenwerbung) haut so schnell nichts um, eher haut er um. Die "personenbezogenen Daten" dieser seiner Karriere erinnern an den Titel eines legendären Italowestern: ‘Leichen pflastern seinen Weg’…, denn "einsam wandelt das Rhinozeros" (Friedrich Nietzsche), und wer es reizt, gar ihm in die Quere kommt, dem bleibt nur Flucht (Biedenkopf, Riesenhuber, Albrecht), Resignation (Geißler, Blüm, Süssmuth), Verzweiflung (Stoltenberg, Heitkamp, Späth, Wörner) oder letaler Abgang ins Große Parteienhauptquartier (Strauß).

Nicht von ungefähr ehrte der Endloskanzlerdarsteller den vermeintlichen Endlosschriftsteller Ernst Jünger zu dessen hundertstem Wiegenfeste – beide scheinen fest entschlossen, den 1. 1. des Jahres 2000 bei guter Gesundheit zu begehen, um auf unabsehbare Zeit das fortzusetzen, von dem sie glauben, es sei ihres Amtes.

Die vier Interimskanzler verblassen vor Konrad Kohl und Helmut Adenauer, sie waren nur Interludien, Nebenrollen, die den Kurs der Republik weder prägen wollten noch konnten. Der junge Alte von Rhöndorf stellte entscheidende Weichen: Wer wollte es bestreiten? Der junge Alte unserer Tage figuriert als Kanzler der Einheit, des Aufschwungs, des Euros. Daß in eine seiner Amtsperioden die Abwicklungsnotwendigkeit der Sowjetzone alias DDR fiel, ist einer der Treppenwitze der Weltgeschichte. Deutsche Patrioten, vor wie nach 1989, könnten sich vom Weltgeist verhöhnt fühlen. Unter Kohl (1976 – 1989) wurde nationalpolitisch allenfalls der Minimalkanon staatlich/besatzungsrechtlich sanktionierter Lippenbekenntnisse nicht noch weiter erodiert, mit Deutschland (in emphatischem Sinn) hat er nichts mehr am Hut. Dies stellte jüngst des Kanzlerkolosses hemmungsloser Tränenfluß in helles Licht: bei "Marschall-Plan"-Feierlichkeiten kam US-Präsidenten Clinton auf den "Hershey’s Sirup" zu sprechen, der als Inhalt von sogenannten Care-Paketen das Leben deutscher Nachkriegskinder habe erhalten helfen. Da übermannte die Rührung den Kanzler, und abermals bewahrheitete sich die psychologische Erkenntnis, daß Sentimentalität und Brutalität sich nicht nur nicht ausschließen, sondern geradezu bedingen.

Wenn es darum geht, seinem eigenen Volk territoriale und kulturelle Riesenverzichte, skurrile Fernstenlieben, fiskalische Zukunftslasten und internationalrechtliche Ungerechtigkeiten zuzumuten, ist der unter Clintons Enkomion heulende Großkanzler knallhart und rücksichtsvoll allenfalls auf international vernetzte Koofmich-Cliquen, die nichts weniger als demokratisch legitimiert agieren. Beim "Verzicht" auf die menschen- und völkerrechtswidrig geraubte Heimat von mehr als zehn Millionen Bundesbürgern, ungefähr
einem Drittel Deutschlands im eigentlichen Sinne, hat jedenfalls keiner Helmut Kohl weinen sehen.

Im Gang durch die Jahre ließe sich minutiös auflisten, was hinter der mit Aplomb verkündeten "geistig-moralischen Wende", der "Tendenzwende" von 1982 und den Jahren danach bis dato wirklich steckt: nichts als die Transformation der Adenauer-Erhard-CDU in eine zentralisationsfreudige, sozialdemokratistische, euroleftistische Partei, was sie ihrer Anlage nach freilich immer (auch) schon war. "Wer Adenauer sagt, muß auch Dutschke sagen" (Günter Maschke). Heute gilt: Wer Kohl sagt, muß auch Euro sagen, muß Ja sagen zur Metamorphose der Bundeswehr-Elite zu einer Art IBM-Bandidos, muß UN-Interessen vor deutsche stellen, muß die Export-Knechtschaft der BRD verschärfen wollen, muß einer langfristig intendierten Umwandlung der europäischen Mitte zustimmen, sie obskuren multi-"national"/poly-"kulturellen" Interventionen (von Anrainern wie raumfremden Imperialmächten) "noch mehr öffnen" wollen und das, was vordem Deutschland war, zur internationalen Umverteilungsmasse im Interesse des Weltwirtschaftsfriedens machen wollen.

Exakt das will Kohl, dem nach 15 Jahren keine ausländische Ehrung, kein US-amerikanischer Ehrendoktor, keine internationale Medaille und kein "europäischer" Preis mehr fehlt. Er sollte nach seiner Kanzlerschaft entweder ‘Generalsekretär des Koordinationskomitees der Vereinigten Regionen von Europa’, zumindest aber Präsident eines europäischen Landes seiner Wahl werden dürfen.

Helmut Kohl aber befürchtet zu Recht: Wenn Metternich, Bismarck, Churchill oder ähnliche Männer seines Schlages von Bord gehen, ist um den Bestand des Vollbrachten zu fürchten – hierin ist er weniger Connys Enkel als Altmeiers Stiefsohn: "Wir Deutschen waren in den ersten 50 Jahren Hochstapler Europas, in den zweiten 50 Jahren müssen wir die Tiefstapler werden" – hatte dieser ihm eingeschärft. In Preußen aber hatte es geheißen: Exakt das scheinen, was man ist, nicht mehr und nicht weniger.

Tempi passati, Helmut Kohl aber ist auf seine "Vision" fixiert, er will aus dem Schatten aller deutsch-europäischen Vergangenheiten treten, denen von 1871, 1918 und 1945, wie auch der des Kalten Krieges. Er hat die Nachkriegszeit und ihre Politik mit der Neubildung eines deutschen Nationalstaates beendet, zweifellos, doch spricht nicht alles dafür, daß er weder willens noch fähig ist, aus deren Schlagschatten, der aus den Jahren 1945 und danach rührenden, massiv fixierten Interessenslage und Rollenverteilung, zu treten?

Kohls Lernen aus der Geschichte endet in praxi stets beim Antifa-Fackeltrupp um die Ecke, er – und leider nicht bloß seine Generation – bringt es allenfalls zum volkspädagogischen Schlinger-Trauma.


 
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