© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/97  03. Oktober 1997

 
 
Sudetendeutsches "Protest- und Strategieseminar": Roland Schnürch zeigt Alternativen auf
Freistaat oder Europäisierung
von Martin Schmidt

Herr Schnürch, am 4. und 5. Oktober findet auf Schloß Schney bei Lichtenfels ein sudetendeutsches "Protest- und Strategieseminar" statt. Das klingt kämpferisch. Doch was helfen alle ausgeklügelten Strategien, wenn die Sudetendeutschen, trotz ihrer bayerischen "Verbindungen", in der deutschen Außenpolitik gegenüber Tschechien so gut wie nicht gehört werden – siehe Deutsch-Tschechische Erklärung?

Schnürch: Diese Frage hätte sich auch vor zehn Jahren angesichts der katastrophalen Politik gegenüber der DDR gestellt. Recht haben aber die behalten, welche konsequent an deutschlandpolitischen Positionen festgehalten haben – trotz Anfeindungen, Häme und Resignation. Ähnlich ist die Lage heute! Allerdings hat die Regierung Kohl mit der Deutsch-Tschechischen Erklärung das diplomatisch Zulässige weit überschritten. Nicht einmal Willy Brandt ist bei seinen Ostverträgen so weit gegangen. Beim Prager Vertrag von 1973 gab es wenigstens Konsultationen mit sudetendeutschen Vertretern.

Das Protest- und Strategieseminar in Schney wird von führenden Amtsträgern der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL) besucht werden. Es dient der Stärkung dieser Volksgruppenorganisation. Allerdings haben wir die politischen Verflechtungen kritisch im Auge. Was Sie als bayerische "Verbindungen" ansprechen, hat die Bewährungsprobe schlecht bestanden. Um die Jahreswende waren die Gemüter vieler Landsleute, in und außerhalb der SL, bis zur Weißglut erhitzt: Es war höchst unklug von der bayerischen Staatsregierung, die skandalöse Erklärung mit einem "ja, aber..." zu kommentieren, und das wenige Tage, nachdem SL, Präsidium des Sudetendeutschen Rates und die drei Gesinnungsgemeinschaften diese eindeutig abgelehnt hatten. Die offensichtliche Weigerung der tschechischen Seite, die vereinbarten "Gesprächsforen" unter Beteiligung der Sudetendeutschen mit Leben zu erfüllen, ist endgültig eine Bankrotterklärung dieser Deklaration. Gerade angesichts des Wahljahres 1998 sollten sich Bonn und München überlegen, ob sie das sudetendeutsche Wählerpotential weiter verprellen und in die Wahlenthaltung treiben wollen.

Welches sind Ihrer Meinung nach heute die zentralen Ziele für die Sudetendeutschen, die es zu formulieren und nach Möglichkeit umzusetzen gilt?

Schnürch: Die zentralen Ziele sind weiterhin durch die SL-Satzung vorgegeben: Rechtsanspruch auf die Heimat, deren Wiedergewinnung und das damit verbundene Selbstbestimmungsrecht. Um mit den Bundestagsparteien nicht anzuecken, kann man natürlich nicht illusionäre Vorschläge machen und Sudetendeutschen eine Rückkehr in die Tschechische Republik empfehlen. Die Bereitschaft dazu wird im Promillebereich liegen. Ich persönlich halte es mit einem Vorschlag von Dr. Harry Hochfelder, der 1938 mit Wenzel Jaksch ins Exil ging und 1984 von London aus einen "Freistaat Sudetenland" zur Debatte stellte. Eine Alternative ist die "Europäisierung" der Vertreibungsgebiete. Diese taugt auch als Kompromißformel für andere Problemgebiete der Volksgruppenpolitk. So vertreten Politiker aus Südtirol und Italiener aus dem Trentino eine gemeinsame "Euroregion Tirol", die bis Kufstein reichen soll. Wichtig ist, daß es sich hier um völkerrechtlich zulässige Formen des "peaceful change" auf der Basis beiderseitiger Zustimmung der betroffenen Staaten handelt.

Apropos Völkerrecht: Was bringen völkerrechtliche Tatbestände, auf die die Vertriebenen immer mit großem Nachdruck zu verweisen pflegen, wenn die Macht des Faktischen diese ganz offensichtlich zu realpolitisch wertlosen Gedankenspielchen degradiert?

Schnürch: Ich muß wieder auf Parallelen zu den ersten Ostverträgen von Brandt verweisen. Oppositionsführer Barzel leistete damals hinhaltenden Widerstand, signalisierte aber gleichzeitig dem Sowjetbotschafter Falin Zustimmung. Es war der Widerstand einzelner Staatsbürger, die mit Verfassungsbeschwerden vorgingen, und es waren Völkerrechtler wie die Professoren Blumenwitz, Kimminich, F. Münch u. a., die damals eine Menge erreichten und die Offenheit der deutschen Frage untermauerten. Vor allem blieb die deutsche Staatsangehörigkeit für eine Million Deutscher jenseits von Oder und Neiße bis heute bestehen. So muß auch in der Gegenwart scheinbar Aussichtsloses versucht werden, weil es sich in Zukunft auszahlen kann. Der Bonner Staatsrechtler Prof. Isensee sagte kürzlich: "Toleriertes Unrecht verdirbt das Bewußtsein der Bürger." – Wollen wir dem durch Untätigkeit Vorschub leisten?

Nun wird immer wieder behauptet, diese Zielsetzungen bedeuten eine "neue Vertreibung" der heutigen tschechischen Bewohner. Wie sehen Sie das?

Schnürch: Die Bundesregierung hat es sehr wohl verstanden, jüdische Restitutionsansprüche in den mitteldeutschen Bundesländern noch nach Jahrzehnten anzuerkennen. Um nichts anderes geht es auch bei den Ansprüchen der Vertriebenen. Die Aussage "keine neue Vertreibung" ist ein Totschlag-Argument, das jede differenzierte Erörterung verhindern soll. Bis zu tausend sudetendeutsche Gemeinden sind teilweise oder völlig vom Erdboden verschwunden. Wer würde bei Rückgabe dieses Grundeigentums eigentlich "vertrieben"? Rund 800.000 Hektar landwirtschaftlichen Bodens und Waldbesitz sollen sich heute noch in staatlicher Hand befinden. Wer würde hier "vertrieben"? Diese Flächen umfassen zusammengenommen immerhin 30 Prozent des sudetendeutschen Gebietes.

Welches sind Ihrer Ansicht nach die größten Erfolge bzw. die zukunftsträchtigsten Projekte, die in den letzten Jahren im Sudetenland vor Ort verwirklicht werden konnten?

Schnürch: Einen gewissen Erfolg stellt der Umstand dar, daß sich die 50.000 bis 100.000 Landsleute in der Heimat in verschiedenen deutschen Verbänden frei organisieren konnten. Tatsächlich sind aber auch sie Opfer der Deutsch-Tschechischen Erklärung, da ihnen die Rückgabe der elterlichen Anweisen verweigert wird. Auf lange Sicht sind sie zum kulturellen Aussterben verurteilt, wenn Bonn nicht hilft

 

Akzentverschiebungen: Hans Mirtes kritisiert die Praxis der Begegnungszentren
Weniger Kulturarbeit, mehr Politik

von Martin Schmidt

Herr Mirtes, man sagt, daß die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) im Vergleich zu den ostdeutschen Landsmannschaften politisch vergleichsweise viel mitzureden hat, da sie als Repräsentantin des "vierten Stammes" in Bayern über einen guten Draht zur CSU verfügt.

Mirtes: Die CSU hat es sehr lange verstanden, die Sudetendeutschen an sich zu binden. Doch die Deutsch-Tschechische Erklärung hat hier eine deutliche Ernüchterung gebracht. Die Vertriebenen waren erschüttert, daß Ministerpräsident Stoiber im Bundestag für diese Verhöhnungserklärung, die eine Versöhnungserklärung hätte werden sollen, auch noch geworben hat. Wir wurden von der Bundesregierung in keiner Phase der Verhandlungen gehört, nur nach Fertigstellung der Erklärung kurz unterrichtet, was einer Befehlsausgabe gleichkam.

Es gibt eine ganze Reihe verschiedener sudetendeutscher Organisationen: Landsmannschaft, Witikobund, Ackermann- und Seligergemeinde, Adalbert-Stifter-Verein, Willi Wanka-Kreis u. v. a. Können Sie mit wenigen Worten eine Differenzierung dieser Verbände nach den jeweiligen Hauptarbeitsfeldern, politischen Meinungsunterschieden, Erfolgsbilanzen etc. vornehmen?

Mirtes: Ja, es gibt eine Vielfalt von sudetendeutschen Gruppen und Grüppchen. Aber damit müssen wir fertigwerden. Die Gesinnungsgemeinschaften – unter diesen vertritt die Ackermanngemeinde vorwiegend das betont christliche Lager, in der Seligergemeinde sind die sudetendeutschen Sozialdemokraten zusammengeschlossen, und der Witikobund umfaßt die national-konservative Richtung – haben in der Vergangenheit die Führung der SL unterstützt, und ich glaube, es gibt einen weitgehenden Konsens in der Vertretung sudetendeutscher Interessen.

Was werden Sie auf dem Strategieseminar auf Schloß Schney im einzelnen vorschlagen, damit die Arbeit der SL effektiver gestaltet werden kann?

Mirtes: Beim Sudetendeutschen Tag in Nürnberg hat sich nicht nur gezeigt, daß die Sudetendeutschen von der Deutsch-Tschechischen Erklärung enttäuscht sind, sondern auch, daß ein aktives Potential vorhanden ist, das für eine vernünftige sudetendeutsche Politik genutzt werden kann und muß. Ich werde u. a. eine Akzentverschiebung vorschlagen: Abkehr vom Schwerpunkt Kulturarbeit und Hinführung zu lebenswichtigen politischen Leitfragen unserer Volksgruppe sowie Öffnung gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit, um unsere Anliegen verständlich zu machen. Man hat uns und die Vertriebenen ganz allgemein schon zu lange auf das Gleis der Kulturpflege abgeschoben und damit paralysiert.

Welches sind aus Ihrer Sicht die größten Erfolge, die im Sudetenland vor Ort verwirklicht werden konnten?

Mirtes: Vor allem sind in der Tschechischen Republik von der Bundesrepublik Begegnungszentren für die dort lebende deutsche Minderheit geschaffen worden. Ich habe allerdings verschiedentlich den Eindruck gewonnen, daß es auch hier Tschechen verstanden haben, sich bequem einzunisten. Im Prager Begegnungszentrum wird man beispielsweise von einer Angestellten dezent darauf hingewiesen, daß man hier tschechisch spricht, und in Pilsen sieht man sich gar mit der Äußerung eines Mitglieds der Organisation der Deutschen konfrontiert, daß die Benesch-Dekrete rechtens gewesen seien.Unsere Landsleute haben Unsummen in Renovierungsarbeiten von Kirchen, Schulen, Friedhöfen gesteckt. All dies als ein Zeichen von Versöhnungswille und seelischer Bindung an die Heimat. Politisch allerdings hat dies nichts bewirkt. Die Prager Nomenklatura lehnt es nach wie vor ab, auf die Sudetendeutschen zuzugehen und wird in dieser Haltung durch die politische Klasse in Bonn letztlich noch bestärkt.

Erwarten Sie vom EU-Beitritt Tschechiens mehr Entgegenkommen von Prag?

Mirtes: Leider nein! Nach neuesten Umfragen verurteilen auch heute nur ein Prozent der Tschechen die Vertreibung. Daran orientieren sich tschechische Politiker. Und der CDU-Politiker Lamers hat Prag schon 1996 einen "behutsamen Umgang mit der Freizügigkeit" garantiert


 
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