© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/97  03. Oktober 1997

 
 
Für eine Berliner Republik
von Ulrich Schacht und Heimo Schwilk

Ob die "Bonner Republik", wie schon so oft beschworen, tatsächlich ein gelungenes Provisorium deutscher Nationalstaatlichkeit war, dem politisch und geistig nichts hinzuzufügen ist, das wird sich erst in jener deutschen Republik erweisen, die sich seit der Wiedervereinigung im Oktober 1990 in Berlin zu formieren beginnt. Die "Berliner Republik" aber wird eine Republik der äußeren und inneren Souveränität sein – oder sie wird nicht sein. Die Funktionseliten der "Bonner Republik" jedoch fürchten in ihrer Mehrheit nichts mehr als eine solche Entwicklung, weil damit ihre wirklichen politischen Fähigkeiten auf dem Prüfstand der Geschichte stehen. Um ihrer historischen Verantwortung, die damit unausweichlich und überdeutlich verbunden ist, auf gesicherten Selbstentmündigungspfaden zu entgehen, betreiben sie seit geraumer Zeit immer unverstellter die europäische Auflösung des deutschen Nationalstaats – vorbereitet und flankiert von einem flächendeckenden Geschichtsrevisionismus, der humane deutsche Geschichte erst nach 1945 beginnen läßt und die wahre deutsche Demokratie nicht vor 1968.

Das Jahr 1968 markiert tatsächlich vieles. Mitnichten jedoch eine humane Wende in der deutschen Nachkriegsentwicklung. Vielmehr steht es heute überklar für den Beginn der mutwilligen Zerstörung all jener politisch-moralischen Standards , die die Gründungsväter der Bundesrepublik – NS-Diktatur im Rücken und SED-Diktatur vor Augen – im Sinn hatten und im als unantastbar ausgewiesenen Normenkatalog Artikel 1–20 des Grundgesetzes verankerten.

Es wird deshalb eine wesentliche Handlungs- und Veränderungsperspektive der "Berliner Republik" sein, die tendenziell katastrophischen politischen Zustände der heutigen "Bonner Republik", die inzwischen prinzipiell und habituell eine Republik der 68er ist, nachhaltig, das heißt: grundgesetzlich, zu korrigieren. Was nicht zuletzt bedeutet, das Grundgesetz selbst zu rekonstruieren. Denn selbst das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist, so der Staatsrechtler Josef Isensee, im Zuge dieser politischen Entwicklung nicht nur verändert, sondern regelrecht "umfunktioniert" worden "zu einem neo-, paläo- oder postmarxistischen, zum radikal-emanzipatorischen oder zum anarchistischen Programm". Das heißt: Es ist inzwischen überdeutlich, daß die mit linksliberalen Phrasen legitimierten Reformen der 70er Jahre sowohl die gesellschaftsmoralischen Intentionen wie die staatsrechtlichen Konsequenzen des Grundgesetzes in ihr Gegenteil verkehrt haben oder in diese Richtung weiter vorantreiben.

Dazu gehört vor allem – mit Hilfe eines systematisch angewendeten Faschismusverdachts gegen jeden deutschen Staat – die permanente Infragestellung und Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols. Die zur Zeit gravierendste Konsequenz dieser ursprünglichsten aller 68er-Angriffslinien ist die steigende Schutzlosigkeit der Bevölkerung gegenüber einer dramatisch wachsenden Kriminalität. Flankiert und begünstigt wird diese Entwicklung durch eine die legitimen Schutzinteressen der Bürger rücksichtslos ignorierende Resozialisierungspraxis, die Gewalttäter prinzipiell entlastet und Opfer von Gewalt durch Mißachtung notorisch verhöhnt und so zusätzlich verletzt.

Diese, vor allem durch undifferenzierten Anti-Etatismus, ja Staats-Haß gespeiste, inhumane Politik der humanen Phrase widerspricht elementar dem Geist von Artikel 2 GG, der das "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" gewährleistet. Er sichert im übrigen auch das Lebensrecht von Ungeborenen, das durch eine schrankenlose Selbstverwirklichungsideologie in diesem Land, dessen Regierung seit 15 Jahren von einer christdemokratischen Partei geführt wird, millionenfach bedroht ist.

Dazu zählt ebenso der immer greifbarer werdende Verfall der Rechtskultur, basierend auf der Unabhängigkeit der Justiz, durch politisierte Gerichtsurteile. Die abgebrochenen Prozesse gegen Erich Honecker und andere staatskriminelle Täter der SED-Diktatur oder der Lübecker Brand-Prozeß gegen den Libanesen Safwan Eid zeigen beispielhaft, zu welchen rechtsmanipulativen Akten (Rechtsbeugung, Unterdrückung von Beweismitteln) deutsche Verfassungsgerichtspräsidenten oder Richter inzwischen fähig sind, um eigene ideologische Präferenzen durchzusetzen oder gesellschaftliche Macht-Milieus und Einfluß-Gruppen zu befriedigen. Vergleichbar dem auf zynische Weise politisch-korrekten Rassismus-Urteil im Fall des amerikanischen Film- und Football-Stars O.J. Simpson, der im anschließenden Zivilprozeß des Doppelmordes überführt wurde, kann aus Anlaß des Lübecker Eid-Prozesses, in dem es um zehn verbrannte und fast 40 verletzte Menschen ging, geradezu von einer "Simpsonisierung" der deutschen Justiz in Teilen gesprochen werden.

Und wer wollte angesichts diverser Gesinnungsurteile, die zwischen links- und rechtsextremen Gewalttätern zu Lasten letzterer in der Strafzumessung plötzlich "genau" zu unterscheiden wissen, noch von einer Respektierung des Art. 3 GG, der die Gleichheit vor dem Gesetz garantiert, sprechen? War die Justiz der Weimarer Republik zweifelsohne auf dem rechten Auge blind, so ist es die Justiz der "Bonner Republik" nach dem Marsch der 68er durch die Institutionen – symbolisch mag für diese Entwicklung der Aufstieg des ehemaligen RAF-Anwalts Rupert von Plottnitz zum hessischen Justizminister stehen – zunehmend ganz gewiß auf dem linken.

In diesen Zusammenhang gehört auch die verfassungsfeindliche Mutation von Teilen verschiedener Landesämter für Verfassungsschutz (besonders in Nordrhein-Westfalen) zu gesinnungspolizistisch operierenden Inquisitionsbehörden, denen inzwischen ganze Kohorten von 68er-Politologen als Recherche-Spitzel und Konstrukteure gesellschaftlicher Denunziations-Begrifflichkeit dienen. Die Prototypen dieses akademischen Zuträgermilieus tarnen sich als Wissenschaftler. Ihr Wissensbegehren und -anwenden ist aber nur identisch mit den Informationsbeschaffungs- und Deutungsverfahren, wie sie vor allem im Ministerium für Staatssicherheit der DDR Norm waren. In ihren Biographien mischen sich auf in der deutschen Spitzelgeschichte sattsam bekannte gemeingefährliche Weise zweitrangige Karrieren drittklassiger Talente mit von brennendem Ehrgeiz getriebenem Entdecken und Nutzen gesellschaftlicher Profilierungs-Lücken, denen sich moralisch und wissenschaftlich qualifizierte Menschen naturgemäß verweigern. Gesellschaftliche Voraussetzung dieser Einseitigkeit ist nicht zuletzt das Phänomen der massenmedial verstärkten politischen Korrektheit, das sich inzwischen zu einer Art systematischem Tugendterror ausgeweitet hat, dem sich die politische Klasse der "Bonner Republik" fast vollständig unterwirft. Das heißt, sie hat es längst aufgegeben, die in Art. 5 GG formulierte Meinungsfreiheit durch bewußte und offensive Verteidigung zu erhalten. Schließlich: Stehen Ehe und Familie, bedenkt man nur das aktuelle Scheidungs- und Steuerrecht oder die von einflußreichen gesellschaftlichen Kräften angestrebte Homosexuellen-Ehe, tatsächlich noch "unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung", wie das Grundgesetz in Artikel 6 aus gutem Grund fordert?

An diesem Punkt der lediglich fragmentarisch beschriebenen destruktiven Gesellschafts- und Staatsentwicklung seit 1968 muß allerdings eingestanden werden, daß die giftigen Blüten des Prozesses ausgerechnet in der Ära des christdemokratischen Bundeskanzlers Helmut Kohl zur vollen Entfaltung gekommen sind. Er aber war es, der für sich und seine Partei im Jahr seines Regierungsantritts 1982 nichts Geringeres als eine "geistig-moralische Wende" angekündigt hatte. Diese Wende ist nicht nur nie eingetreten; was eintrat, war das Gegenteil aller konservativen Erwartungen sowie staats- und gesellschaftspolitischen Notwendigkeiten.

In einer beispiellosen Politik ideologischer Osmose – personifizierbar in der Karriere der amtierenden Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth – sog die christ-liberale Regierung Kohls statt dessen alle gängigen Zeitgeistphänomene auf, um seit fünfzehn Jahren im Prinzip nichts anderes als das Geschäft des neomarxistisch und hyperegoistisch inspirierten Sozialliberalismus zu betreiben. Damit gelang Kohl zwar das zweifelhafte Kunststück, Regierung und Opposition zugleich zu sein. Der hohe Preis dafür war allerdings die Schaffung einer handlungslähmenden Quasi-Einheitspartei zum Schaden der Bundesrepublik, in der echte parlamentarische politische Alternativen nicht mehr erkennbar sind. Immer mehr Staatsrechtler, Politikwissenschaftler, Sozialphilosophen und Publizisten konstatieren inzwischen immer besorgter die damit zusammenhängende Systemblockade der "Bonner Republik". Der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer spricht gar von einer "Konsensdiktatur".

Vor allem deshalb dürfte die Amtszeit Helmut Kohls – trotz seiner unzweifelhaften Verdienste um die Wiedervereinigung – einmal als eine Ära des wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Niedergangs gelten. Während Kohl 1989/90 in der Frage der deutschen Wiedervereinigung – mit entscheidender Rückendeckung durch die US-Administration unter Präsident Bush – zunehmend zielgerichtet und historisch geschickt agierte, um die Souveränität Deutschlands wiederherzustellen, treiben ihn in der Europapolitik gefährlicherweise nur noch ideologische Obsessionen, die immer klarer auch als Flucht aus der innenpolitischen Verantwortung erkennbar werden und zugleich die eben erst erreichte nationalstaatliche Souveränität erneut einem Auflösungsprozeß ausliefern. Als Motivlage für diese gegen eine klare Bevölkerungsmehrheit exekutierte Politik, deren selbstzerstörerischer Keim die Abschaffung der DM im Rahmen der Währungsunion ist, führt Kohl immer wieder den angeblichen Vorteil der europäischen Integration an, der für ihn vor allem in einer Art gestaltbaren ewigen Friedens liegt.

Allerdings kann inzwischen jeder erkennen, daß dieses Motiv keineswegs das Motiv der wichtigsten Integrationspartner wie Frankreich oder Großbritannien ist. Hohe Regierungsbeamte und -berater beider Länder lassen schon jetzt verlauten, daß die europäische Integration de facto dann zum Ende kommt, wenn die deutsche Währung im "Euro" verschwunden ist.

Eine integrierte Außen-, Sicherheits- und Sozialpolitik, die die Souveränitätsrechte der Mitgliedsstaaten gleichschaltet, soll und wird es nicht geben. Was es – vor allem aus französischer Sicht – geben soll, ist ein finanzpolitisch, das heißt ein für allemal machtpolitisch entkerntes Deutschland.

Kohls Traum, den die ganze politische Klasse der späten "Bonner Republik" träumt und der inzwischen sogar die Grünen mit den Linksaußen-Tradierten Joschka Fischer, Jürgen Trittin und Antje Vollmer oder den sozialphilosophischen Deutschland-Verächter Jürgen Habermas zu Kohl-Sympathisanten gemacht hat, erscheint, so gesehen, als letztes deutsches Utopia. Es kollidiert aber in einem dramatischen Ausmaß mit Artikel 79 (3) des Grundgesetzes, der es absolut verbietet, die Wesensmerkmale der parlamentarischen, gewaltengeteilten deutschen Demokratie auch nur anzutasten, sowie mit Artikel 38, der die Volkssouveränität festschreibt, das heißt den konstitutiven Einfluß des Wahlbürgers auf die Politik und ihre normativen Entscheidungsrichtungen.

Der tiefere Grund dieser zwangsläufig ebenso kulturfeindlichen wie hyperbürokratischen Utopie ist jedoch ein – spätestens seit 1968 – bis in den Selbsthaß gesteigertes Mißtrauen gegenüber der eigenen Nation. Sie soll – als letzte Konsequenz aus einem geradezu pathologischen Bedürfnis nach "Vergangenheitsbewältigung", das auf die historisch "einmalige" Beschmutzung durch die Verbrechen der NS-Diktatur mit der historisch "einmaligen" Säuberung des Verbrecher-Volkskörpers antwortet – in ein imaginäres Europa entsorgt werden.

In diesen Kontext gehört die kampagnenartige und ritualisierte Beschäftigung mit dem Mord an den europäischen Juden durch das Dritte Reich. Aus dem ursprünglichen Erschrecken über das primär rassistisch motivierte, von zahlreichen deutschen, aber auch ausländischen Geheim- und Sonderpolizisten, Juristen und Militärs im Auftrag deutscher NS-Politiker ausgeübte Großverbrechen und der daraus notwendig folgenden Wiedergutmachung gegenüber dem Staat Israel wurde seit 1968 ein instrumenteller Mißbrauch zur Herrschaftsgewinnung und -sicherung im Innern der "Bonner Republik": Aber die toten Juden von Auschwitz, Majdanek und zahlreichen anderen Vernichtungsorten als Manövriermasse für die tagespolitische Auseinandersetzung – das ist die empörendste Form ihrer Entwürdigung seit langem.

Doch heute, da das jüdische Volk in Israel – trotz aller Friedensbemühungen – in seiner Existenz immer noch bedroht ist, sind durchschaubare Gesinnungs-Rituale fehl am Platz. Die Zeit ist vielmehr reif, in diesem Zusammenhang eine wirklich radikale Schlußfolgerung zu ziehen: Deutschland muß in öffentlicher Selbstverpflichtung so weit gehen, Israel in einer erneut drohenden Opfersituation auch militärisch zur Seite zu stehen. Erst wenn Soldaten eines deutschen Rechtsstaates bereit sind, die völkerrechtlich anerkannten Grenzen Israels mit Leib und Leben zu verteidigen, darf von einer tieferen ja sakramentalen Wiedergutmachung gesprochen werden.

Um solch einen Akt äußerster Solidarität beginnen, vor allem aber durchhalten zu können, bedarf es jedoch eines nationalen Selbstbewußtseins, welches das Wissen um das geschichtliche Selbst mit dem Bewußtsein des davon unabhängigen eigenen Wertes verbindet. Aber diese Erkenntnis gilt im heutigen Deutschland, in dem pazifistische Ideologien und multiethnische Phrasen gepflegt werden, deren Erfinder und Paraphraseure in der eigenen Identität und ihrer Verteidigungswürdigkeit nur zivilisatorischen Rückschritt sehen wollen, als Provokation.

Doch weder die doppelte Staatsbürgerschaft noch unqualifizierte, vielleicht gar bewußt destruktive Einwanderungspolitik oder eine systematisch betriebene Verzeichnung der deutschen National-Historie erlösen von der eigenen Geschichte. Wer im eigenen Land nicht bereit ist, die kulturelle Hegemonie zu bewahren und auf dieser Basis Assimilation von Zuwanderern zu betreiben, wird auch in Zukunft die eigene Identität verspielen.

Ohne diese Identität und ihren damit verbundenen Wertegrund aber können wir weder den zivilisatorischen Standards des Grundgesetzes noch den Pflichten gegenüber unseren Partnernationen gerecht werden.

Das Programm einer "Berliner Republik", die ihren Ausgang in der so mutvollen Erhebung gegen die zweite deutsche Diktatur nahm, ist die Wiedereinsetzung des antitotalitären Geistes der Verfassung von 1949. Sie gab den Deutschen nach der größten Katastrophe ihrer Geschichte – trotz aller Fremdbestimmtheit, die sich aus der damaligen Situation naturgemäß ergab – Würde, Hoffnung und Handlungsfähigkeit zurück. Darum geht es auch heute.


 
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