© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/97  10. Oktober 1997

 
 
"Werkstatt Deutschland": Eine Tagung am Tag der Einheit
Tataaa! Wir diskutieren!
Von Hans B. Von Sothen / Dieter Stein

Berlin, 3. Oktober. Das Volk der Hauptstadt feiert mit Umzügen, Costa Cordalis und brasilianischen Sambarhythmen den Nationalfeiertag. Wer sich jedoch gerne nachsagen läßt, höhere kulturelle Ansprüche und politisches Interesse zu haben, der findet sich zur gleichen Zeit im gediegenen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt ein. Dort hatte die "Werkstatt Deutschland" ein Festprogramm mit Vorträgen und Diskussionsforen zum Thema "7 Jahre Deutschland – Spaziergang in die Zukunft" vorbereitet.

Im Foyer ein munteres Gewusel von Menschen, die sich mit erhöhter Lautstärke zu verständigen versuchen. Im ganzen Haus verteilt stehen Computer des Sponsors "o.tel.o", einer Telekom-Konkurrenz, herum. Videogeräte spulen ihr Programm ab und suggerieren Bürgernähe: "Zukunftswünsche von Bürgern", so heißt ein Video-Programm. "Apocalypse now" ein anderes. Eine junge Musikerin versucht es mit einigen Bach-Sonaten für Violoncello solo. Vergeblich. Kein Mensch interessiert sich für die wunderbare Musik. Die allgegenwärtige Altersheim-Lautstärke absorbiert die Töne. Entnervt gibt sie nach einigen Minuten auf.

Langsam ist es Zeit für die offizielle Eröffnungsveranstaltung. Der kleine Kammermusiksaal ist nur zu gut zwei Dritteln gefüllt, besonders prickelnd scheinen die Berliner das alles nicht zu finden. Man ist unter sich mit anderen Journalisten, die später schreiben werden, es seien überwiegend Bürger anwesend gewesen. Vorn setzt sich eine koreanische Delegation, deren Mitglieder sich Kopfhörer aufsetzen, um bei dem nun Folgenden auf dem laufenden zu sein. Bürgermeister Eberhard Diepgen spricht ein Grußwort: Ja, Bundespräsident Herzog habe recht gehabt. Wir Deutsche brauchten mehr unverkrampften Patriotismus. Zeitverzögertes, aber allgemeines Nicken bei den Koreanern. Aber der erste Schock kommt sofort. Eine Theatergruppe mit zwei jungen Damen, wohl die beiden vereinigten Teile des neuen Deutschland darstellend, die sich abwechselnd ihr gegenseitiges Nichtverstehen zuschreien. Verständnislose Blicke bei den Koreanern.

Da man seit einigen Jahren Streichquartette bei offiziellen Anlässen für hoffnungslos altbacken erklärt hat, zeigt man sein Weltniveau, wie das früher in der DDR hieß, durch ein kurzes Jazz-Intermezzo, wofür Mitglieder der benachbarten Hochschule für Musik "Hanns Eisler" sorgten. Und nun der erste Höhepunkt. Tatatataa! Eine Diskussionsrunde. Selbstverständlich nach dem guten alten Rezept von Werner Höfers Internationalem Frühschoppen: Mit vier Flaschen aus fünf Anbaugebieten. Schließlich ist für einen Deutschen nichts auf der Welt so wichtig wie die Frage: Wie sieht uns das Ausland? Und außerdem dürfe eine Diskussion nicht zur Nabelschau führen, und so versucht man sich in Selbstbespiegelung von außen. Professor David Schoenbaum, Historiker an der Universität Iowa, gibt den Ton an: "Ein großer Erfolg" sei die Eingliederung von Millionen Emigranten. Es gebe eigentlich keine Wirtschaftskrise, denn "überall bewegt es sich". Aber auch Negatives gebe es aus Deutschland zu berichten: die Ladenschlußzeiten! Frenetischer Beifall.

Der Franzose Professor Michel Korinman setzt die Akzente anders: Bei einer deutsch-deutschen Journalistendiskussion in Paris hätte er beobachtet, daß die Deutschen sich "so gestritten hätten, daß man glaubte, die Franzosen und Frau Thatcher hätten die deutsche Einheit gewollt, nicht aber die deutschen Journalisten". Die Koreaner in der dritten Reihe beginnen immer öfter mit dem Kopf zu schütteln. Georg Hoffmann-Ostenhoff, Redakteur des österreichischen Magazins Profil, meint: "Entweder sind die Deutschen manisch depressiv oder sie drehen durch. Deswegen wurde Maastricht gemacht." Spontanes und heftiges Nicken bei dem französischen Diskussionsteilnehmer.

Einig ist man sich schließlich darin, daß es ein Segen sei, daß in Deutschland auf absehbare Zeit "kein Haider" zu befürchten sei. Auffangorganisation für populistische Stimmen sei die PDS. Und das sei auch schließlich gut so.

"Germanozentrismus", auch hier war man sich einig, sei von Übel. Aber die Gefahr werde Gott sei Dank immer geringer: Stichwort Maastricht und Globalisierung. Und die Deutschen brächten eben vieles nicht mehr so recht auf die Reihe. Aber das mache sie ja gerade so sympathisch: "Ganz entzückend!", schwärmt Hoffmann-Ostenhoff. Große Heiterkeit im Saal. Hamwajelacht. Eine Diskussion ohne Meinungsverschiedenheiten nähert sich ihrem Ende. Die Koreaner verlassen fluchtartig und geschlossen den Saal. Den weiteren Verlauf der Veranstaltung werden sie nicht mehr mitverfolgen. Man sollte öfter einmal von Ausländern lernen. Aber man sollte genau hinsehen, bei welchen.

Wieder unten im Foyer des Schauspielhauses angelangt, herrscht große Aufregung: "Da! Er läuft die Treppe hinauf! Da ist er!" Er? Wer ist "er", hinter dem nun pulkartig Fotografen herrennen, als sei Lady Di wiederauferstanden? Es ist Joschka Fischer, der auf die alten Tage noch Kanzler werden möchte – so tritt er wenigstens auf. Auf den Stufen des ehrwürdigen Hauses steht ein graumelierter, hagerer Herr, der süffisant lächelt. "Aber ich bitte Sie! Diese Aufregung ist doch völlig unnötig", möchte er wohl sagen, da wird er von einem engagierten Sextett fidel übertönt, das zu seiner Begrüßung Bertolt Brechts "Und der Haifisch, der hat Zähne" intoniert.


 
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