© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/97  17. Oktober 1997

 
 
Pankraz, der Rat der Alten und die Sache mit den Pflichten 

Eine etwas gespenstische Aktion ist angerollt: Fünfundzwanzig ehemalige Regierungschefs aus allen Erdteilen, von Andries A. M. van Agt (ehem. Premierminister der Niederlande) bis Franz Vranitzky (ehem. Bundeskanzler von Österreich) haben eine "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten" publiziert, die nach ihrem Willen von der Uno so bald wie möglich der berühmten "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" von 1948 angefügt werden soll.

Die prominenten "Ehems", darunter Jimmy Carter aus Amerika, Lee Kuan Yew aus Singapur und, als Spiritus rector, Helmut Schmidt aus Deutschland, wollen damit den globalen Sittenverfall bekämpfen und einem möglichen "clash of civilisations" vorbeugen. Ein "ethisches Minimum" soll fixiert werden, dem sich jedes Individuum auf der Welt, so hoffen die Ehems, guten Gewissens unterwerfen könnte – und letztlich auch unterwerfen müßte.

Nun ist die Frage nach dem ethischen Minimum eine der schwierigsten Fragen überhaupt. Viele Philosophen sagen, daß es solch ein ethisches Minimum gar nicht gebe, gar nicht geben könne. Hinter jedem Moralgebot lauerten Ausnahmesituationen; das gelte selbst für eine so machtvolle Regel wie "Du sollst nicht töten!" Wieder andere sagen, eine normative Moral sei nur möglich, wenn man an Gott und an die Willensfreiheit glaube. "Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt" (Dostojewski).

Aber mit derlei Feinheiten halten sich die Ehems in ihrer "Allgemeinen Erklärung" nicht auf. "Globale Probleme verlangen globale Lösungen", verkünden sie, und in diesem Sinne werden von ihnen anschließend neunzehn Paragraphen offeriert, deren Forderungen so wolkenschieberhaft und so auslegungsfähig sind, daß sich jeder Pflichtunwillige, wo immer er gerade seinen Morgenkaffee trinken mag, nach der Lektüre sofort erleichtert zurücklehnen kann. Mit dieser Charta kann sogar ein Mafiaboß leben.

Jede Person, heißt es, muß "menschlich" handeln; "niemand steht jenseits von gut und böse". Er muß das Leben der anderen achten und eventuelle Streitigkeiten immer ohne Gewalt regeln. Jede Person muß ehrlich und fair sein, sie darf nicht lügen, aber "niemand ist verpflichtet, die volle Wahrheit zu jedem zu jeder Zeit zu sagen". Alle sollen fleißig sein und "ihre Fähigkeiten entwickeln". Jedes Eigentum und jeder Reichtum sollen "in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeit und zum Fortschritt der Menschheit" verwendet werden.

Auch die Medien sollen ihre kritische Potenz "mit Verantwortung und Umsicht gebrauchen". Niemand soll zu Haß, Fanatismus und Intoleranz anstiften. Die Geschlechter sollen sich "mit Achtung und Verständnis begegnen". Die Ehe erfordere "Liebe, Treue und Vergebung". Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern soll "Liebe, Achtung, Wertschätzung und Sorge widerspiegeln".

Den Ehems, so viel wird immerhin klar, gefällt es nicht, daß in unseren permissiven Zeiten immer nur von "Rechten", kaum mehr von Pflichten und Verantwortung gesprochen wird. Das wollen sie also ändern.

Doch mit ihren neunzehn Paragraphen verstärken sie gerade den permissiven Drive; die ganze Rhetorik dieser Paragraphen ist permissiv, man vergleiche sie nur mit der Rhetorik des biblischen Dekalogs. Die Ermahnungen der Ehems richten sich gar nicht in erster Linie an die hedonistisch auf ihre "Rechte" pochenden Individuen, sondern an die Institutionen: Staat, Nation, Religion, Tradition, die jenen ein bißchen von den "Rechten" abknapsen könnten.

Nicht in den neunzehn Paragraphen selbst, sondern in einer privaten Erläuterung dazu von Helmut Schmidt findet sich der Satz, daß zum notwendigen Pflichtverständnis der alte römische Grundsatz "Res publica suprema lex" ("Die Polis ist oberstes Gesetz") gute Orientierung leisten könne. Das klingt schon besser. Das könnte wirklich Grenzen individueller Permissivität und Umrisse notwendiger Menschenpflicht markieren helfen.

Doch was versteht der ehem.deutsche Bundeskanzler unter "Polis", "Res publica"? Den modernen Staat als solchen kann er schwerlich gemeint haben, denn der hat ja allzu oft seine eigene moralische Pflichtvergessenheit unter Beweis gestellt, war und ist Beute von Parteien oder Büttel geldgieriger Konzerne oder Exekutor wahnwitziger säkularistischer Ideen. Angepeilt ist statt seiner offenbar die Idee einer ursprünglicheren Gemeinschaft, die ihre Rechtfertigung, um es altrömisch zu sagen, aus dem Konnex mit den Göttern gewinnt, die Heiligkeit für sich erfleht und beansprucht und aus diesem Grund von den Mitgliedern der Polis Pflichterfüllung einfordert.

Nur so läßt sich Pflichterfüllung überhaupt einfordern. Frühere "Allgemeine Erklärungen der Menschenpflichten", wie etwa der Dekalog, begannen deshalb stets mit der Anrufung Gottes; noch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland folgte diesem Schema. Und auch der Rat der Alten bei einigen heutigen sogenannten Naturvölkern versäumt es, wie uns die Ethnologen belehren, nie, die Götter anzurufen, bevor er mit den Beratungen anfängt.

Von aufgeklärten Ehems ist so etwas wohl nicht zu erwarten. Sie sollten dann aber, findet Pankraz, ethische Pflichtappelle lieber den Moralphilosophen überlassen, die für die schwierige Materie ohnehin besser geeignet sind. Wer den Bezug auf die Transzendenz verschmäht, der bringt eben nur ein Tableau von gutgemeinten Phrasen zustande, an die sich niemand hält und die sich jeder ins Schaufenster hängen kann.

Die Uno hat freilich schon viele solcher Tableaus im Schaufenster; eines mehr oder weniger würde nicht schaden, und die ehem. Präsidenten, Premiers und Kanzler hätten ihre kindliche Freude dran. Zu einem wirklichen Rat der Alten würden sie dadurch jedoch nicht, und die Sitten würden sich auch nicht verbessern.


 
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