© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/97  17. Oktober 1997

 
 
Arnulf Barning: Scheitert Deutschland? Der schwierige Abschied von unseren Wunschwelten
Die Politische Klasse ist denkfaul

Arnulf Baring, Professor für Zeitgeschichte und internationale Beziehungen an der Freien Universität Berlin, stellt den Lesern der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in regelmäßigen Abständen in einer Zeitschriftenschau Beiträge zu allen möglichen Themen aus Politik und Zeitgeschichte vor. Er ist ein belesener Mann, der einen guten Überblick über das hat, was man landläufig "Zeitgeist" nennt. An seinen Lesefrüchten läßt er jetzt auch die Leser des zu besprechenden Buches teilhaben. Vor allem aber ist Baring in der Lage, das, was er gelesen hat, kritisch zu verarbeiten und daraus politische Schlußfolgerungen zu ziehen. Diese Fähigkeiten machen sein Buch zu einer ebenso interessanten wie bedrückenden Analyse der Lage des wiedervereinigten Deutschlands. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Gefahr ist groß, daß man die im Titel des Buches gestellte Frage "Scheitert Deutschland?" bejahen muß. Schuld an dieser Fehlentwicklung ist, daran hat Baring keinen Zweifel, das, was er – in Anlehnung an Vorbilder in Frankreich und Großbritannien – die "politische Klasse" in Deutschland nennt, eine Schicht von Politikern aller Parteien, sonstigen Funktionären und Journalisten, die die Deutschland bedrohenden Probleme entweder nicht sehen, nicht sehen wollen oder jedenfalls unfähig sind, aus ihren Beobachtungen Schlußfolgerungen zu ziehen und dem Volk reinen Wein über seine Situation einzuschenken.

Mit Rückblicken in die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, mit Vergleichen Deutschlands mit anderen Ländern in Europa und der Welt, nicht zuletzt den USA, und einem gelegentlich fast brutal wirkenden Mut zum eigenen Urteil behandelt Baring in vier Kapiteln "Deutschlands Zukunft als Industrienation und Sozialstaat", den "außenpolitischen Wandel" nach der Wiedervereinigung, das Für und Wider einer europäischen Währungsunion noch in diesem Jahrhundert und schließlich die seiner Ansicht nach erstarrten politischen Parteien und eine schläfrige öffentliche Meinung, die ihrer Kontroll- und Anregungsfunktion immer weniger gerecht wird. Alles, was Baring dazu schreibt, verstößt nach landläufiger Meinung gegen die Grundsätze der politischen Korrektheit. Ihm ist das egal. Er schlachtet schonungslos heilige Kühe der deutschen Nachkriegspolitik wie etwa den Glauben, der Nationalstaat sei – in Europa und darüber hinaus – überholt und werde in naher Zukunft durch etwas anderes, vielleicht einen europäischen Bundesstaat, abgelöst. Baring ist davon überzeugt, daß alle unsere Nachbarn in Ost und West, Nord und Süd an ihrem Nationalstaat mit Klauen und Zähnen festhalten werden und betrachtet die entgegengesetzte Vorreiterrolle der Deutschen als einen schweren politischen Fehler. Folgerichtig fordert er die Deutschen auf, ebenso wie alle anderen Mächte, eine konsequente Interessenpolitik zu praktizieren, die natürlich nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie auch die Interessenlagen anderer mitberücksichtigt. Bei den Deutschen sieht er die Gefahr, daß sie sich einerseits aus Denkfaulheit und Sentimentalität nicht zu ihren Interessen zu bekennen wagen, andererseits aber, wie etwa beim Streben nach einem ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat, sich verheben. Die seit Jahrzehnten beliebte Scheckbuch-Diplomatie der (West-) Deutschen hält er nicht nur für einen Fehler. Sie ist auch nicht mehr bezahlbar.

Gleiches gilt für eine "skandalöse" Subventionspolitik, die zum "Schrumpfen des Mittelstandes" führt, Innovationen verhindert und die Arbeitslosigkeit eher befördert als abbaut. Die Folgen der Vergreisung unserer Gesellschaft durch den katastrophalen Geburtenrückgang werden dadurch noch schlimmer, daß Deutschland ungerührt hinnimmt, daß es zum Anlaufpunkt für Wirtschaftsflüchtlinge aus aller Welt wird. Deutschland exportiert Kapital und Arbeitsplätze in andere Länder und importiert Sozialhilfeempfänger, stellt Baring nüchtern fest. Er dagegen plädiert für eine Einwanderungspolitik, die sich an den Interessen Deutschlands orientiert, das heißt beschränkt wird auf Personen, die nach ihren Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage sind, unserer Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen. Deutsche Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger sollen wieder selbst die sogenannten Dreckarbeiten übernehmen und diese nicht mehr ausländischen Arbeitskräften überlassen dürfen. Daß mindestens 90 % der immer noch weit über 100.000 alljährlich nach Deutschland kommenden Asylbewerber hier nichts zu suchen haben, versteht sich von selbst – obwohl sie nach Ablehnung ihrer Anträge und Ausschöpfung des Rechtsweges dann in aller Regel doch in Deutschland bleiben dürfen und unseren Sozialetat weiter belasten.

Ein umfangreiches Kapitel widmet Baring der Abschaffung der D-Mark und der Einführung des Euro. Selten werden die (wenigen) Argumente, die für eine Währungsunion 1999, und die vielen Einwände, die dagegen sprechen, in so klarer und überzeugender Weise behandelt wie hier. Wäre sein Buch schon vor sechs Jahren auf dem Markt gewesen, hätte sich der Bundestag wohl kaum um eine fundierte Aussprache über eine Währungsunion ohne politische Union herumdrücken können. Baring macht jedenfalls kein Hehl daraus, daß er eine Verschiebung der Währungsunion solange für nötig hält, bis bei den Teilnehmerstaaten eine einheitliche Wirtschafts- und Finanzpolitik gesichert ist, wozu bei den Unterschieden der einzelnen Volkswirtschaften zur Zeit kaum ein Staat willens und in der Lage ist. Ansonsten hat Baring die ganz konkrete Befürchtung, daß die europäische Währungsunion, nach einigen Strohfeuer-Erfolgen, etwas 2003 scheitert und wieder auseinanderbricht, was für die europäische Kooperation ein schwerer Rückschlag wäre und wahrscheinlich die Deutschen als die Schuldigen dieser Entwicklung dastehen lassen würde. Baring sieht jedoch realistisch, daß Bundeskanzler Kohl, der den Euro als die Krönung seiner politischen Laufbahn betrachtet, sich wohl ohne Rücksicht auf Verluste durchsetzen wird – nicht weil er den Euro für wirtschaftlich gut, sondern weil er ihn für politisch notwendig hält. Auch Baring sieht weder im Regierungslager noch in der Opposition Politiker, die den Mumm und die Fähigkeiten haben, dem Kanzler in dieser Frage in den Weg zu treten. Da aber auch unsere politische Klasse die Gesetze der Schwerkraft nicht außer Kraft setzen kann, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß Deutschland und damit Europa in dieser wichtigen Frage in naher Zukunft scheitern.

Baring will mit seinem Buch aufrütteln, und es gelingt ihm. Man liest es bequem an einem Wochenende, allerdings schläft man danach nicht ganz so gut. Wenn das deutsche Volk mit seiner politischen Führung aus den Mahnungen und Argumenten Barings nicht bald Schlußfolgerungen zieht, ist zu befürchten, daß es demnächst noch viel schlechter schlafen wird.

Arnulf Baring: Scheitert Deutschland? Der schwierige Abschied von unseren Wunschwelten, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1997, 352 Seiten, geb., 39,80 Mark


 
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