© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/97  17. Oktober 1997

 
 
Überproduktion: Kostet mehr als sie einbringt
Kontraproduktiv
von Alain de Benoist

Vor kurzem hat die französische Zeitschrift Le Point haarsträubende Zahlen enthüllt. In Frankreich, in Zeiten von Video, Computer und Internet, im Zeitalter der "lebendigen Kultur", können etwa 35 Prozent der Schüler einer 6. Klasse nicht richtig verstehen, was sie gelesen haben, während weitere 9 Prozent nicht einmal den einfachsten Text entziffern können. Nach einem Jahrhundert Schulpflicht und unentwegten Schulreformen kann einer von zehn Wehrpflichtigen immer noch nicht lesen, und 30 Prozent der 18 bis 25jährigen schaffen es nicht, den Sinn eines Zeitungsartikels mit einfachem Inhalt zu entschlüsseln. Ein Vergleich mit der Schule der 20er Jahre fällt daher vernichtend aus. Innerhalb eines Zeitraums von etwa 70 Jahren, trotz etwa 300 Handbüchern und zig verschiedenen Lehrmethoden, hat sich das Niveau, was Schreiben, Lesen und Rechnen angeht, etwa halbiert. Mit anderen Worten: Der Analphabetismus betrifft heute bereits die Hälfte der jungen Leute – was nicht verhindert, daß fast 90 Prozent der Schüler den Weg bis zum höheren Schulabschluß gehen.

Das ist ein paradoxes Ergebnis, aber es gibt noch andere Paradoxien der selben Art. Eine Schule ist im Prinzip dazu da, um zu lernen, so wie ein Auto dazu da ist, um zu fahren oder ein Krankenhaus, damit die Kranken wieder gesund werden. Aber ist dem auch so? Seit 1973 hat sich die Zahl der Automobile verdoppelt, und man sah voraus, daß sie sich nochmals von heute bis 2005 verdoppelt. In dieser Stunde fahren etwa 3,2 Millionen Autos nach Paris hinein oder aus der Stadt hinaus. Nicht nur, daß die Verschmutzung dramatisch zunimmt ebenso wie die Zahl der Unfallopfer (das Auto hat seit 1945 dreimal mehr Franzosen getötet als Hitler und viermal mehr verletzt als der Erste Weltkrieg), es erwachsen daraus auch unzählige Staus und Verstopfungen. 7.500 Straßenkilometer sind heute ständig an der Schwelle der Überlastung, gegenüber nur 500 im Jahre 1960. Die Autofahrer verlieren mehr und mehr Zeit, statt sie zu gewinnen.

Was die Krankenhäuser betrifft, so hat die Presse uns dieser Tage mitgeteilt, daß man in einige auf eigene Gefahr geht. – Die Zeitschrift Sciences & Avenir hat die Zahl von 478 Einrichtungen genannt, aus denen man oft genug kränker herauskommt, als man hineingegangen ist und in denen man sich möglicherweise Infektionen zuzieht, die man zu Hause nicht bekommen hätte. In der Tat müßte man die ganze "Medikamentalsierung" in Frage stellen. Ivan Illich hat bereits vor 20 Jahren gesagt, daß die Medizin in vielen Fällen nur hilft, den sozialen Zusammenhalt zu zerreißen und zum Verschwinden von Familien- und Nachbarschaftshilfe führt. Das Alltagsleben wird mehr und mehr abhängig von der pharmazeutischen Produktion. Die Ausgaben für die Gesundheit erhöhen sich unaufhörlich, der Medikamentenmißbrauch ebenso.

Man könnte viele andere Beispiele nennen. Im industriellen Bereich steigt die Produktivitätsrate zu Lasten der Beschäftigung unentwegt. Arbeit wird immer rarer, weil immer mehr mit immer weniger Menschen produziert wird. Kinder sind noch nie so schlecht erzogen worden, wie seitdem es Hunderte von Büchern gibt, die sich mit ebendieser Erziehung befassen. 81 Prozent der Franzosen fühlen sich laut einer neueren Umfrage als "Sklaven des Fernsehens", aber sie sind noch nie so schlecht informiert gewesen, wie seitdem sie Zugang zu Hunderten von Programmen haben. Je mehr Zugang zu Informationen es gibt, desto mehr schieben diese sich ineinander und neutralisieren sich gegenseitig. Fassen wir zusammen: Arbeit wird immer produktiver, die Arbeit immer weniger. Man geht immer länger zur Schule, und man lernt immer weniger. Es gibt immer mehr Medikamente, die Gesundheit verfällt. Es gibt immer mehr Autos, aber der Verkehr kommt immer mehr zum Stehen. Je mehr Informationen man bekommt, desto weniger weiß man, was vor sich geht. Je mehr Modemagazine es gibt, desto schlechter ist man angezogen. Je mehr sich der Massentourismus ausbreitet, desto weniger Orte bleiben zu besuchen. Und so weiter und so fort.

Dieses verblüffende Phänomen ist ein charakteristischer Zug der heutigen Gesellschaften. Es illustriert das alte Sprichwort, wonach das Bessere der Feind des Guten ist. Es läßt einen auch begreifen, daß eben dieses Prinzip der Produktivität sich als trügerisch herausstellt. Jenseits einer bestimmten Stufe kostet sie mehr als sie einbringt.Trotzdem umspannt diese Produktivität das Technische Projekt der modernen Zeiten. Ein Projekt, das darin besteht, die Bindung der Solidarität und der Zusammengehörigkeit durch ein Kunstprodukt zu ersetzen, das vom Recht garantiert, von der Wirtschaft ausgebeutet und durch den Staat kontrolliert wird. Die Auflösung des sozialen Zusammenhalts treibt automatisch eine Nachfrage nach käuflichen Ersatzprodukten an, die ein Überleben in einer immer unmenschlicheren Zeit erlauben sollen. Resultat: Je mehr die Produktivität zunimmt, desto mehr wird sie selbst zum Hindernis dessen, was sie ursprünglich eigentlich hatte bewirken sollen. Schulen produzieren Analphabeten. Der Verkehr macht immobil, die Medizin bedroht die Gesundheit, die Kommunikation macht taubstumm. Mehr heißt nicht automatisch besser.


 
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