© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/97  24. Oktober 1997

 
 
Frankreich: Die Vergangenheit wird bewältigt
Die offizielle Moral
von Alain de Benoist

Mirabeau hat einmal gesagt, daß Vergessen immer besser ist als Vergebung. Die offizielle Moral verkündet heute das Gegenteil: man erlebt eine Inflation der Bitten um Vergebung. Nach der Erklärung der Kirche von Frankreich, die "die Vergebung Gottes erfleht und das jüdische Volk bittet, dieses Wort der Reue zu erhören", sind es Polizisten in Uniform, die der Öffentlichkeit ihr "tiefstes Bedauern" wegen der Vorkommnisse während der deutschen Besetzung mitteilen. Der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz entschuldigte sich wegen vergangener "Irrtümer". Der Präsident des Rates der Ärzte Frankreichs hat die Staffette aufgenommen. Fehlen jetzt nur noch die Friseurlehrlinge und die Eisenbahner. Das Beispiel dafür kam allerdings von oben. Der Historiker Luigi Accatoli hat nicht weniger als vierundneunzig pontifikale Erklärungen gezählt, in denen Papst Johannes Paul II. historische Fehler der Kirche anerkannt hat, für die er die Verantwortung übernommen hat. Bei 23 von ihnen findet sich die Formulierung: "Ich bitte um Vergebung".

Diese Bereitwilligkeit in Fragen der Schuld, diese Woge des mea culpa macht nachdenklich. In der katholischen Tradition bekennt man nicht die Sünden anderer. Und die Beichte des Sünders geschieht geheim im Beichtstuhl. Das ist anders bei den puritanischen und fundamentalistischen protestantischen Sekten, deren Einfluß etwa in den Vereinigten Staaten immer noch groß ist. Von den Anonymen Alkoholikern bis hin zu den Promise Keepers gehört es zum guten Ton, öffentlich das Wort zu ergreifen, um sich selbst tatsächlicher oder vermeintlicher Fehler zu bezichtigen. Selbst hochrangige Politiker zögern dort nicht, solche Geständnisse in aller Öffentlichkeit zu machen. Aber in den vorliegenden französischen Fällen spürt man, daß es sich um etwas anderes handelt. Hier geht es um medienwirksame öffentliche Barmherzigkeit, um moralischen Exhibitionismus, um kollektive Zurschaustellung des Leidens, um eine neue Form der Unterwerfung des politischen Lebens unter die Moral. Nicht mehr die individuelle Ethik bringt die innere Verpflichtung für das Handeln hervor, sondern eine öffentliche Hypermoral, die sich in dem Maße ausbreitet, wie die individuelle Moral sich auflöst und sich vollständig in der öffentlichen Beichte ausdrückt, das heißt in der Theatralisierung des Guten, im publikumswirksamen Bannstrahl gegen böse Gedanken und in der Inszenierung der guten Sache, die das gute Gewissen mit dem Kult des Eigennutzes und das Marketing mit der Großherzigkeit versöhnt. Diese Moral ist in einem neuen Klima erzeugt worden, einem Klima der ethischen Säuberung, in dem das Gute und das Schlechte an die Stelle des Wahren und des Falschen treten, während die Pflicht zur Erinnerung die Erinnerung an die Pflicht ersetzt und in dem die rituelle Exkommunikation wiederaufersteht. Bis in die Gegenwart haben sich alle Gesellschaften über die Erinnerung und das Gedächtnis an ihre großen und edlen Taten aufgebaut. Heute bekennen sie ihre falschen Vergangenheiten, als wäre es ihnen darum zu tun, eine Gesellschaft hervorzubringen, in denen ihre Mitglieder nur noch ein negatives Bild ihrer Väter hat, als ob es ihnen nur darum ginge, die Vergangenheit zu dekonstruieren und zu entwerten und alle Menschen glauben zu machen, eine gerechtere Welt stehe gerade im Begriff, irgendwo emporzuschnellen.

Es dürfte mittlerweile einfach sein, ein Verzeichnis derjenigen aufzustellen, die sich nicht entschuldigt haben. "Man darf nicht vergessen, daß es mehrere Holocauste in der Welt gegeben hat", erinnerte jüngst Johannes Paul II., bevor er feststellte: "Es sind immer dieselben, die sich entschuldigen". "Die Verbrechen des Kommunismus hat man noch immer nicht gerichtet", bemerkt seinerseits Alain Finkielkraut. Die Intellektuellen, die stets so prompt die Sünden der anderen anklagen, schweigen seit einem halben Jahrhundert über alle linken Totalitarismen. Ihr Schweigen ist betäubend. Aber vielleicht interessanter noch ist es, festzustellen, daß es bei allen geforderten fast nie gewährte Vergebungen gibt. "Die Bitte nach Vergebung entsteht, aber es gibt keine Antwort. Wir sind einfach Zeugen dieser Maßnahme", erklärte vor kurzem der französische Großrabbiner René-Samuel Sirat dem Magazin Le Nouvel Observateur. Die Asymmetrie ist frappierend.

Auf der einen Seite legt man sich selbst einen Strick um den Hals oder verpaßt sich einen Nasenring. Auf der anderen Seite nimmt man zu Protokoll; man notiert die "historische Tragweite" der Maßnahme, aber im Grunde verheimlicht man nicht, daß diese Reue immer nur ein Anfang ist. In anderen Worten: Guter Schüler – Könnte aber noch besser sein. "Daß die führenden Politiker und die Bischöfe ihre Irrtümer anerkennen, genügt nicht", meint Sirat, "es ist notwendig, daß die Zivilgesellschaft als ganze lernt." "Neue Schuldanerkenntnisse sind nötig", so auch Jean Delumeau. Außerdem, so ergänzt Pierre Birnbaum, dürfe man nicht vergessen, daß die französischen Judengesetze von 1940 "einer bestimmten Tradition angehören, die typisch französisch ist". Der Historiker Arno Meyer geht noch weiter: Die Reue der Bischöfe wäre glaubhafter gewesen, wenn sie Buße getan hätten und alle Franzosen aufgefordert hätten, "mit ihnen gemeinsam zu fasten". Wie weit sind wir von politischen Kategorien entfernt!

In einem Fernsehgespräch mit dem bereits vom Tode gezeichneten François Mitterand, in dem dieser sich über seine Vergangenheit erklärte, brachte Jean-Pierre Elkabach den damaligen französischen Präsidenten durch sein ständiges Insistieren gegen sich auf. Schließlich rief dieser aus: "Was wollen Sie? Daß ich konvertiere?" Großrabbiner Sirat erinnert in diesem Zusammenhang daran, daß es in der Bibel heiße, daß das jüdische Volk Priester der Menschheit sei. Um die Absolution zu erhalten, müßte die Menschheit dann wohl eine vormundschaftliche Priesterschaft akzeptieren. Wie weit haben wir uns von politischen Kategorien entfernt!


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen