© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/97  24. Oktober 1997

 
 
Deutsche Bewegung, Teutscher Traum
von Karlheinz Weißmann

Die Bedeutung des Wartburgfestes vom Oktober 1817 lag nicht in der Größe der Veranstaltung, nicht in der Resonanz, die sie fand oder der Bedeutung der Reden, die hier gehalten wurden. Die Bedeutung des Wartburgfestes war vor allem eine symbolische; es war der symbolische Anfang der Deutschen Bewegung des 19. Jahrhunderts.

Die Initiative zu diesem ersten Nationalfest ging auf die Jenaer Burschenschaft zurück, die im Hochsommer 1817 Einladungen an die Studenten der protestantischen Universitäten schickte, um zu einem Fest aus dreifachem Anlaß zusammenzukommen: die Wiederkehr der Völkerschlacht bei Leipzig, den dreihundertsten Jahrestag des Thesenanschlags von Martin Luther und das erste Bundesfest der deutschen Burschenschaft, jener Reformkorporation, die am 12. Juni 1815 in Jena gegründet worden war und sich zum Ziel gesetzt hatte, alle Studenten zusammenzufassen, den Nationalgedanken zu pflegen und das "innere Frankreich" zu bekämpfen. Vor allem aber war die Burschenschaft mit kulturrevolutionären Implikationen verbunden: die traten nach außen besonders deutlich hervor durch die "altdeutsche Tracht", einen schlichten schwarzen Rock mit Barett und offenem weißem Hemd; viele Studenten trugen dazu Vollbart und langes Haar nach dem Vorbild der Dürer-Zeit. Das Mittelalter galt dieser jungen Generation überhaupt als "Urbild der Deutschheit" (Friedrich Schlegel), und die Wartburg konnte als sinnfälliger Ausdruck dieses "Urbildes" erscheinen, weil sie in so vieler Hinsicht an die "altdeutsche Zeit" erinnerte: mit der Heiligen Elisabeth, dem Sängerkrieg und Luthers Aufenthalt als Junker Jörg.

Dabei wurde Luther von der Nationalbewegung nicht in erster Linie als christlicher Reformator verstanden. Das Protestantische galt den Studenten als spezifisch deutsch, wie sich ja auch die Wartburg vor allem mit der Erinnerung an die Übersetzung des Neuen Testaments und insofern mit der Schaffung der deutschen Schriftsprache durch die Reformation verband.

Der zweite Anlaß des Wartburgfestes, die Schlacht bei Leipzig, hatte vier Jahre zuvor stattgefunden. Die "Völkerschlacht" war die bis dahin größte Schlacht der Weltgeschichte: sie fand unter Teilnahme von mehr als einer halben Million Soldaten – Franzosen, Russen, Deutsche, Schweden – statt, und nach vier Tagen blieben fast 120.000 Tote zurück. Der Kampf besiegelte das Schicksal Napoleons, und im Bewußtsein der deutschen Patrioten blieb die Völkerschlacht das entscheidende Ereignis im Kampf gegen den großen Korsen, trotz des Nachspiels, das er noch bot mit Rücktritt, Verbannung nach Elba, den hundert Tagen und Waterloo. Währenddessen hatte längst der Wiener Kongreß zu tagen und zu tanzen begonnen. Und die Hoffnungen der Nationalbewegung wurden getrogen, denn so wenig wie einen deutschen Nationalstaat gab es eine freiheitliche Verfassung. Der "Deutsche Bund" der Fürsten und Freien Städte war nicht das, was man sich erhofft hatte. Allerdings gab es unter den Herrschern der Einzelstaaten Ausnahmeerscheinungen, etwa den Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, der auch seine schützende Hand über die Burschenschaft hielt und die Wartburg als Versammlungsort zur Verfügung stellte.

Das Wartburgfest begann am 18. Oktober 1817, nachdem um sechs Uhr in der Frühe zum Aufstehen geläutet worden war und sich die Teilnehmer auf dem Eisenacher Marktplatz versammelt hatten. Dann begaben sich etwa tausend Menschen, neben 650 bis 800 Studenten viele Bürger der Stadt, den Burgberg hinauf, immer zu zweit gehend, hinter der schwarz-roten Fahne der Burschenschaft. Oben angekommen, trat man im Minnesängersaal zusammen, es wurde ein Gebet gesprochen und dann Luthers Ein feste Burg ist unser Gott angestimmt. Die Ansprache hielt ein junger Jenaer Theologiestudent, Heinrich Hermann Riemann, der seine Zuhörer an die schweren Prüfungen der Vergangenheit erinnerte und die glückliche Befreiung Deutschlands mit dem Auszug der Kinder Israel aus Ägypten in Beziehung setzte. Es folgte eine weitere kurze Ansprache, dann ein gemeinsames Mittagessen, bei dem zahlreiche Trinksprüche auf die "deutsche Freiheit", auf Luther und die "Märtyrer" der nationalen Sache – Schill, Scharnhorst, Friesen und Körner – ausgebracht wurden, schließlich kehrten die Versammelten in die Stadt zurück. Es fand noch ein Gottesdienst in der Marktkirche statt, dann führten einige Burschenschafter vor den staunenden Augen der Eisenacher Turnspiele unter freiem Himmel vor. Den zweiten Höhepunkt nach der Zusammenkunft im Minnesängersaal bildete aber der abendliche Fackelzug auf den Wartenberg, der der Wartburg gegenüberliegt. Jetzt waren die Studenten fast unter sich, zogen wieder zu zweien und zweien wie eine leuchtende Schlange die Anhöhe hinauf. Auf der Kuppe des Wartenbergs entzündete man mehrere "Siegesfeuer", und der Philosophiestudent Ludwig Rödiger aus Jena hielt eine Ansprache, die sich im Ton und in der Schärfe deutlich von dem unterschied, was am Vormittag zu hören gewesen war: "In der Noth versprach man uns … ein einiges Vaterland der Gerechtigkeit, aber der theuer erkaufte Bundestag ist noch nicht angebrochen, und fast will es scheinen, als sei das Volk glühend erwacht, die Herrlichen gefallen, damit hochmüthige Ideenlosigkeit ein Freudenmahl halte von dem letzten Bissen des Landes…".

Die im Anschluß an die Rede Rödigers folgende, berühmt gewordene Bücherverbrennung war von der Festleitung keineswegs geplant. Die Idee dazu stammte entweder von einigen Burschen-Turnern, die aus den Kadern von Jahns Bewegung kamen, oder den Gießener "Schwarzen", die innerhalb der Burschenschaft eine radikale, nationalrevolutionäre Fraktion bildeten. Jedenfalls erschien eine Gruppe von Studenten mit einem Korb voll von Büchern oder Buchattrappen, dazu große schwarze Blätter, auf denen weithin sichtbar Namen unliebsamer Autoren geschrieben standen, und mit einer Heugabel. Es folgte eine kurze Ansprache, in der man die Anwesenden an Luthers Verbrennung der päpstlichen Bannandrohungsbulle im Jahre 1520 erinnerte, dann wurden unter allgemeinem Jubel mit der Heugabel die "welschen" Bücher wie der Code Napoléon und reaktionäre Schriften den Flammen übergeben. Schließlich flogen ein preußischer Ulanen-Schnürleib, ein hessischer gepuderter Haarzopf und ein Korporalstock aus Nassau hinterher als Sinnbilder des verhaßten Berufssoldatentums. Der Abend klang aus mit Szenen der Verbrüderung und mit gemeinsamem Gesang. Für die meisten Teilnehmer war damit das Wartburgfest zu Ende. Am nächsten Tag machten sie sich auf den Heimweg, nur einige blieben noch zur Diskussion in einem "Studentenparlament" zusammen. Sie versammelten sich erneut im Minnesängersaal, um Gespräche über die Schaffung einer allgemeinen deutschen Burschenschaft zu führen, die die Bünde, die an den einzelnen Hochschulen entstanden waren, vereinigen sollte.

So wenig es den Burschenschaften gelang, ihre hochgesteckten Ziele zu erreichen und alle Studenten für ihre Idee der nationalen Einheit und Freiheit zusammenzufassen, so wenig gelang es überhaupt, die Vorstellungen, die während des Wartburgfestes formuliert worden waren, auf direktem Weg umzusetzen. Deutschland blieb geteilt, die Nation ohne Mitspracherechte, viele ältere Kräfte, die die Teilung vertieften, behielten ihren Einfluß.

Trotzdem verringert dieses äußerliche Scheitern nicht die historische Bedeutung des Wartburgfestes. Es waren die Anfänge der Deutschen Bewegung, die sich damals zeigten, noch ohne Massenbasis, nicht immer ganz deutlich in ihren Bestrebungen, voller Überschwang, gefährdet, unter staatlichem Druck oder von der Obrigkeit mißtrauisch beäugt. Aber diese Anfänge bildeten auch schon im Bewußtsein der Zeitgenossen den Ausgangspunkt all dessen, was man "Vormärz" und "Völkerfrühling" nannte. Als sich fünfzehn Jahre später, vom 27. bis 30. Mai 1832, dreißigtausend Menschen zum Hambacher Fest versammelten – der ersten Großveranstaltung der deutschen Nationalbewegung – wurden die Teilnehmer aufgerufen, nun alle zu dem zu stehen, was die deutsche Jugend auf der Wartburg beschworen habe.

Das Wartburgfest war symbolische Politik. Das Wartburgfest diente der Deutschen Bewegung als demonstrativer Ausdruck des Kampfes um ihr gutes Recht, gegen den Neo-Absolutismus der Fürsten, deren Wortbrüchigkeit und "Nationalvergessenheit" (Bernard Willms), gegen die neue Inquisition, die Herrschaft des Verdachts, den die Zensoren ausübten.

Was für Lehren können daraus gezogen werden? Jedenfalls keine in dem Sinn, daß man die Sprache oder den Stil des beginnenden 19. Jahrhunderts kopieren sollte. Beides wird beim besten Willen seine Fremdheit nicht verlieren. Wir können kaum in altdeutschen Gewändern herumlaufen, dem Menschen der Gegenwart bleibt der Gefühlsüberschwang jener Zeit peinlich. Worauf man indes Hoffnung setzen darf, das ist eine gewisse Ähnlichkeit der psychologischen Situation damals und heute. Auch die Nationalbewegung hatte sich gleich an ihrem Beginn von einer tiefen Enttäuschung zu erholen. Viele drückte nach dem großen Aufbruch von 1813 das Empfinden nieder, daß alles vergeblich war. Darin sind wir nicht weit von den Patrioten damals entfernt, die wir nach dem Aufbruch von 1989 große Erwartungen in eine Veränderung der Lage setzten. In einem Interview, das der Schriftsteller und Dramatiker Heiner Müller im Februar 1994, kurz vor seinem Tod, gegeben hat, sagte er: "Jetzt ist der Ideenhimmel verbraucht. Deutschland ist zu einem Markt unter vielen geworden, der weder Hintergründe noch metaphysische Reserven besitzt. Deutschland ist ortlos." Das kann, aber das muß nicht das letzte Wort sein.

daß Deutsche und Österreicher historisch und soziokulturell "gemeinsam zu Hause" seien (gemeint ist wohl das Haus der deutschen Geschichte), ist indes einigermaßen zutreffend. Wesentlich ehrlicher jedenfalls als jene typisch österreichischen Geiststreicheleien, mit denen man um den heißen Brei herumzureden pflegt: Es seien "verfreundtete Nachbarn", meint man, um anzudeuten, daß eine spezifisch österreichisch-nationale Identität sich primär durch Abgrenzung gegenüber der deutschen definiert. Und jeder Halbgebildete vermag Karl Kraus zu zitieren, der bekanntlich gemeint hat, Österreicher und Deutsche würden "durch die gemeinsame Sprache getrennt".

Dabei ist in unseren Tagen nichts so verräterisch einheitlich zwischen Kiel und Klagenfurt wie die heuchlerische, gemeinsame Sprache der political correctness, die die einzig akzeptable Identität der Menschen des deutschen Kulturraums in Pflicht-Antifaschismus und perpetuierter Vergangenheitsbewältigung zu erkennen vermag.

Die Realitäten seit der deutschen Wiedervereinigung des Jahres 1989 und dem österreichischen EU-Beitritt sind allerdings völlig veränderte: Österreich wird nunmehr von der EU-Führungsmacht Deutschland marginalisiert. Kein Wunder, daß manche fürchten, als 17. deutsches Bundesland so nebenbei "abgewickelt" zu werden. Verspäteter Austrochauvinismus und neudeutsche Herablassung sind da wenig hilfreich.

Dabei wäre die Notwendigkeit für ein unverkrampftes deutsch-österreichisches Verhältnis größer denn je.

Daher sollte man die Verleugnung des österreichischen Anteils an der deutschen Geschichte durch einen neuen Konsens ersetzen, wie er nüchtern und unsentimental etwa im neuen, heftig diskutierten Programmvorschlag der Freiheitlichen formuliert ist: "Die deutsche Mehrheitsbevölkerung wird gegenüber den zu schützenden ethnischen Minderheiten vom Gesetz denklogisch vorausgesetzt." Etwas, was nicht nur in einem Parteiprogramm, sondern sehr wohl auch in der Bundesverfassung einer selbstbewußten österreichischen Republik stehen könnte.


 
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