© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/97  31. Oktober 1997

 
 
Rußland: 80 Jahre Oktoberrevolution – Kein Grund zum Feiern
Lenins Roter Terror
von Hans B. von Sothen

Der 25. Oktober 1917 war ein ganz normaler Tag, glaubt man Augenzeugenberichten. Zwar herrschte Krieg mit Deutschland und Österreich-Ungarn, und die politische Situation unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Kerenski war alles andere als stabil. Aber Büros und Geschäfte waren geöffnet, die Arbeiter gingen in die Fabriken, man vergnügte sich in der Kneipe oder im Theater. Niemand außer einigen wenigen Beteiligten hatte eine Ahnung, was eigentlich passiert war: Lenin und die Bolschewiken hatten soeben die russische Hauptstadt Petrograd in einem bewaffneten Handstreich genommen. Für die etablierte Historiographie bedeutet das Jahr 1917 den Beginn einer neuen Epoche, den Beginn dessen, was man heute "Zeitgeschichte" nennt.

Bis heute umweht diese Revolution, die ihrer ganzen Struktur nach eher ein Putsch gewesen ist, ein Hauch von Romantik. Lenin, so heißt es seit 1968 und noch heute bei der West-Linken, habe einen guten, menschlichen Kommunismus gewollt, der erst später durch Stalin pervertiert worden sei. Die Wirkung der Oktoberrevolution auf die übrige Welt war von Beginn an erheblich. Vom ersten Augenblick erhob sie – im Gegensatz zur Französischen Revolution von 1789 – den Anspruch darauf, nicht nur ein Land, sondern die ganze Welt zu revolutionieren. Daran hat sie sich gehalten, auch gegenüber dem kaiserlichen Deutschland, das Lenin und einigen seiner Genossen die Durchfahrt aus seinem Schweizer Exil ins neutrale Schweden gewährte. Aus Deutschland waren größere Summen an Lenins Geldbeschaffer, Jacob Fürstenberg-Hanecki, geflossen.

"Er arbeitet genau nach unseren Wünschen", kabelte der deutsche Agent in Stockholm an die Regierung nach Berlin, nachdem Lenin am 4. April 1917 auf dem Finnischen Bahnhof in Petrograd unter dem Jubel seiner politischen Anhänger eingetroffen war. Doch einmal nach Rußland gelangt, arbeitete Lenin zwar im Sinne der Deutschen auf den Sturz der alliiertenfreundlichen Regierung Kerenski und auf einen Friedensschluß mit Deutschland hin – beides erreichte er –, aber er wurde doch nicht der "Befehlsempfänger", als den ihn die Deutschen gern gesehen hätten. Das Auswärtige Amt in Berlin war so sehr auf den Zweck der Neutralisierung Rußlands fixiert, daß es ganz vergessen hatte, Erkundigungen über Lenin und sein Programm einzuziehen. Ein Versäumnis, das sich rächen sollte.

 

Bolschewiken bekamen ihr Geld aus Deutschland

 

Schon bald wurde der Frieden von Brest-Litowsk mit den Mittelmächten geschlossen und ein Botschafteraustausch mit dem kaiserlichen Deutschland vereinbart. Der neue Botschafter Sowjetrußlands wurde Adolf Joffe, der Mitte April 1918 in Berlin ankam. Von Anfang an argwöhnten deutsche Generäle, daß er sich dort wohl vor allem der Spionage widmen werde. So geschah es auch. Die Sowjetbotschaft leitete und subventionierte den Sturz der deutschen Regierung. Großzügigste Finanztransfers gingen an die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), die sich seit 1917 gegen den Krieg ausgesprochen hatte (die Kommunistische Partei gab es damals noch nicht). Die Botschaft subventionierte mitten im Krieg nicht weniger als zehn linkssozialistische Zeitungen. Ihre Agenten saßen in den verschiedensten deutschen Ministerien und waren über alles genau informiert. Die Informationen wurden weitergeleitet an die USPD-Abgeordneten, die sich selbst als verlängerten Arm der Sowjets sahen und die ebenfalls auf einen gewaltsamen Umsturz der deutschen Regierung hinarbeiteten. Ganz Deutschland war mit einem Netz aus illegalen revolutionären Organisationen überzogen. Geld für den Druck von Flugblättern und den Kauf von Waffen floß reichlich. Alles, was wir heute über diese Vorgänge, unter anderem auch durch das vierbändige Quellenwerk des Begründers der DDR-Geschichtswissenschaft, Leo Stern, über den Einfluß der Oktoberrevolution auf Deutschland wissen, legt den Schluß nahe, daß man von sowjetischer Seite tatsächlich auf eine Art "Dolchstoß" der deutschen "Heimatfront" hinarbeitete, wenn diese Arbeit auch letztlich nicht hauptursächlich für die militärische Niederlage des Landes wurde.

 

"Unschuldige" Opfer gab es nicht für Lenin

 

Doch zunächst einmal errichtete Lenin eine Parteienherrschaft nach seiner Vorstellung in Sowjetrußland. Das hieß bei ihm vor allem: Terror. In späteren Rechtfertigungen der Bolschewisten hieß es immer wieder: So bedauerlich das mit dem Terror auch gewesen sein mochte, aber der sei den Bolschewiki von außen und durch die zaristischen "Weißen" aufgezwungen worden. Dies entspricht schon deshalb nicht der Wahrheit, weil der Terror bei Lenin konstituierendes Merkmal einer Revolution war, ohne das eine bolschewistische Partei niemals herrschen oder ihre Macht sichern konnte. Schon 1908 hatte er von der Notwendigkeit revolutionären Terrors gesprochen.

Lenin zog es vor, den Terror hinter den Kulissen zu dirigieren. Eigens dafür war bereits am 7. Dezember 1917 eine Organisation gegründet worden, die diesen Terror ausüben sollte, die "Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage", kurz: Tscheka. Anfang 1918 begann die Tscheka mit verschiedenen Formen des Terrors zu experimentieren. Stets fanden die Tscheka und ihr erster Chef Felix Dzierzynski ein offenes Ohr bei Lenin, wenn es um die Ausübung des Terrors ging. Beschwerden über "unschuldige Opfer" der Tscheka ließ er nicht durchgehen: "Ich urteile nüchtern und kategorisch", antwortete er 1919 einem Arbeiter, der die Verfolgung Unschuldiger angeprangert hatte, "was ist besser – einige Dutzend oder Hundert Hetzer, schuldige oder unschuldige, bewußte oder unbewußte, ins Gefängnis zu sperren oder Tausende Rotarmisten und Arbeiter zu verlieren? – Das erste ist besser." Doch bei Gefängnis für die Feinde blieb es nicht. Trotzki am 3. Dezember 1917 in der Zeitung Djelo Naroda: "Unseren Feinden droht nicht Gefängnis, sondern die Guillotine." Damit lag er nur insofern falsch, als die für die Tscheka typische Hinrichtungsart der Kopfschuß werden sollte.

Lenin trug zwar Sorge, daß sein Name in der Öffentlichkeit möglichst wenig im Zusammenhang mit der Tscheka auftauchte. Dennoch erforderten alle Entscheidungen, ob sie allgemeine Verfahren oder die Hinrichtung wichtiger Gefangener betrafen, die Zustimmung des bolschewistischen Zentralkomitees (später des Politbüros), dessen ständiger Vorsitzender Lenin selbst war.

In Fragen der Ausübung des Terrors war er hart und unerbittlich. Als ihn sein Volkskommissar (Minister) für Justizwesen, Isaak Steinberg, im Februar 1918 angesichts der völlig willkürlichen Tscheka-Morde fragte: "Wozu brauchen wir eigentlich dann noch ein Kommissariat für Justizwesen? Nennen wir es doch einfach Kommissariat für soziale Ausrottung, und damit basta!", hellte sich Lenins Gesicht auf, und er erwiderte: "Gut gesagt… das ist genau das, was es eigentlich sein sollte … aber das können wir nicht sagen." Revolutionstribunale, die seiner Meinung nach zuwenig Todesurteile fällten, forderte er auf, schwerere Strafen zu verhängen.

Der Terror traf alle, ob schuldig oder nicht. Die allgemeine Einschüchterung war gerade das erwünschte Resultat. Als Lenin im Herbst 1918 einen "Krieg gegen die Dörfer", in denen er einen Hort der Reaktion sah, ausrief, folgte dort eine unerhörte Hungersnot. Als die Bauern sich weigerten, ihre gesamte Ernte an den Staat gegen wertloses Papiergeld abzuliefern, waren Lenins maßlose Aufrufe zu hören, in denen er die Arbeiter aufrief, die "Kulaken" umzubringen. Bei den Kulaken konnte es sich allerdings um jeden handeln, der eine andere Auffassung als die der Sowjetregierung vertrat. Eine "Ausrottung durch Hunger" wurde hier angewandt.

Auch sind Aufrufe Lenins nach Pogromen überliefert. In einem Brief an den Petrograder Parteichef schrieb er: "Genosse Sinowjew! Erst heute haben wir im ZK gehört, daß die Arbeiter in Petrograd die Ermordung Wolodarskijs mit dem Massenterror beantworten wollten und daß man … sie zurückgehalten hat. Ich protestiere entschieden! Wir … hemmen die revolutionäre Initiative der Massen, die völlig berechtigt ist."

Seit dem 5. September 1918 wurde Terror gar zur Pflicht erklärt. Mitleid galt nicht nur als Weichlichkeit, sondern als Beihilfe zur Konterrevolution. Seit 1919 wurden Konzentrationslager, im Sowjet-Jargon: Konz-Lager, eingeführt. Im Gegensatz zu den furchtbaren britischen KZs in Südafrika aus dem Burenkrieg waren die sowjetischen KZs von Anfang als erste ihrer Art als ständige Einrichtungen gedacht, die überdies eine bedeutende wirtschaftliche Funktion besaßen. Der Schriftsteller Alexander Solschenizyn hat über diese frühen sowjetischen KZs, deren Schöpfer Lenin und Trotzki waren, einmal gesagt: "Es hat den Anschein, als hätten die Menschen, die darin gesessen, zu niemandem ein Wort gesprochen – die Zeugnisse fehlen."

 

Stalin lernte sein Terrorhandwerk bei Lenin

 

Bereits Lenins Revolution hat dem Lande unendliche Verluste an Menschenleben zugefügt. Der amerikanische Historiker Richard Piper hat die Zahl der Opfer des Roten Terrors bis 1923 auf 50.000 bis 140.000 beziffert. Die Toten, die mittelbar oder unmittelbar durch die Russische Revolution 1918 bis 1922 durch Epidemien und Hungersnot den Tod fanden, wird, nach den russischen Forschern Strumilin und Poljakow, auf 25 bis 26 Millionen geschätzt. Diese Zahl ist so unglaublich – es sind zweieinhalbmal so viele Menschen wie im gesamten Ersten Weltkrieg bei allen Ländern umkamen –, daß es schwer fällt, das zu kommentieren. Und hierbei handelt es sich wohlgemerkt noch nicht um die noch viel höheren Opferzahlen der Stalinzeit. Doch sieht man in allem Stalin als einen getreuen Schüler Lenins, der nichts, aber auch gar nichts vom Terror bis hin zu Schauprozessen erfunden hätte, was er nicht bereits unter Lenin kennenlernte.

Kerenski meinte später, Rußland wäre viel erspart geblieben, wenn sein Bürgertum 1917 den Bolschewisten so entschlossen widerstanden hätte, wie das deutsche. Diese Feigheit und Unentschlossenheit sollte es mit seiner eigenen Liquidation bezahlen. Im heutigen Deutschland wird die 80-Jahr-Feier der russischen Revolution wohl zu vielen mehr oder weniger klugen Analysen führen. In Berlin-Charlottenburg hat die Jugendorganisation der SPD zu einer Diskussion "Zur Verteidigung der Russischen Revolution" aufgerufen. Man darf gespannt sein, welche warmen Worte sie für ihr Idol Lenin finden werden.


 
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