© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/97  07. November 1997

 
 
Schäuble kommt –1998
von Helmut Kamphausen

Da war der Parteitag der Christdemokraten in Leipzig. Eigentlich nichts Besonderes. Doch zwei Tage nach dem Parteitag kam plötzlich Kohls öffentliche Erklärung via Fernsehinterview, daß er sich den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU, Wolfgang Schäuble, zu seinem Nachfolger wünsche. Es gab Wirbel um diese Erklärung, aber dieser Wirbel war oberflächlich. Denn die so oft hochgelobten Medienpäpste durchschauten dieses Mal die Hintergründe nicht. Keiner stellte die Frage: Warum zu diesem Zeitpunkt? Und warum ohne vorherige Absprache mit Theo Waigel? Der Kanzler mußte doch wissen, daß seine Erklärung – für den Koalitionspartner und die Schwesterpartei –als eine provozierende Herausforderung aufgefaßt werden mußte. Warum also?

Bei allen Überlegungen bleibt eigentlich nur eine Schlußfolgerung: Helmut Kohl glaubt nicht mehr an den Wahlsieg bei der Bundestagswahl 1998. Ob die FDP die Fünf-Prozent-Hürde schaffen wird, ist außerordentlich unsicher. Leihstimmen kann sich die CDU bei der immer geringer werdenden Wahlbeteiligung nicht mehr leisten. Andererseits ist eine absolute Mehrheit für die Union wohl auszuschließen. Alle bisherigen Umfragen lassen erkennen, daß eine rechnerische Mehrheit für Rot-Grün wahrscheinlich ist. Das aber würde bedeuten, daß der derzeitige Bundeskanzler im Herbst 1998 abgewählt würde. Eine Lage, die der bisher am längsten die Richtlinien der Politik der Bundesrepublik Deutschland bestimmende Kanzler vermeiden will, um in die Geschichtsbücher ohne Klecks in der Conduite einzugehen.

Was hindert ihn daran Anfang 1998 festzustellen, daß die Lage in Deutschland im Frühjahr des Wahljahres durch steigende Arbeitslosigkeit, ausufernde Kriminalität,anwachsende Sozialleistungen und ein geringeres Steueraufkommen in einen Notstand gerät, der eine Regierung auf breitester parlamentarischer Mehrheit notwendig macht. Das wäre die Große Koalition. Kohl selbst würde einer solchen Koalition nicht vorstehen wollen; denn auch durch ein derartiges taktisches Manöver ist eine Mehrheit der CDU nicht zu erreichen. Ergo: Der Kanzler wird im nächsten Frühjahr ehrenvoll verabschiedet, seine Verdienste werden in der "veröffentlichten Meinung" groß herausgestellt und sein Kronprinz Schäuble übernimmt das Staatsruder für das letzte halbe Jahr der Regierung der CDU – nun nicht mehr der Regierung Kohl!

Ist diese Überlegung falsch? Sie mag gewagt sein, aber nach den Gesetzen der politischen Logik ist sie nicht so ohne weiteres abzulehnen.


 
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