© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/97  14. November 1997

 
 
Indiens viele Gesichter: Das britische Erbe, der Hindu-Nationalismus und die Lockerung des Westens
Auf dem Sprung zur Supermacht
von Michael Walker

 Die Ankunftshalle des Internationalen Flughafens von Delhi unterscheidet sich nicht von der eines beliebigen internationalen Flughafens, sie ist nur ein klein wenig schäbiger. Außen ist es anders: Massen von Menschen, die gestikulieren und einen drängen, mit ihnen zu gehen, eine Mauer von braunen Armen und winkenden Händen, Leute, die rufen, schieben, hocken, kacken, und eine Sicht, die getrübt ist durch den Nebel aus Autoabgasen. – Indien.

Indien ist für einen Briten nicht das gleiche wie für irgendeinen anderen Europäer. Es ist nicht so fremd. Es weckt Erinnerungen. Von dem großartigen Connaught Square in Delhi bis zum Gateway of India in Bombay und dem Victoria Denkmal in Kalkutta ist ein bedeutender Teil von Indiens Architekturerbe britisch. Die Züge sind ebenso eine koloniale Hinterlassenschaft wie die Bürokratie, und die internationale Verkehrssprache des Landes ist nach wie vor das Englische. Von dem vorzüglichen Tee und dem schrecklichen Kaffee bis zu den Currygerichten steckt in vielem etwas Heimatliches. Etwas, nicht viel – und wahrscheinlich jedes Jahr weniger, da Indien sich immer mehr in Richtung auf einen modernen Staat und auf eine Supermacht bewegt.

 

Noch ist Indien für das "Big Business" zu arm

Nichtsdestoweniger ist Indien weniger verwestlicht als große Teile Afrikas, Asiens und Südamerikas, weil das indische Millionenvolk nach wie vor zu arm ist, um für die meisten multinationalen Konzerne von Interesse zu sein. Ein Besuch Indiens ist in vieler Hinsicht eine Flucht aus der modernen Welt und besonders der westlichen Welt. Das Land befindet sich in einem Zustand, den die multinationalen Konzerne allzu gern verändert sehen würden, und es ist eine Situation, die auch nach dem Willen einer kleinen reichen Elite möglichst schnell der Vergangenheit angehören soll. "Kleine" Elite ist natürlich relativ, denn diese Schicht zählt nach Millionen, aber das besagt nichts, denn alles, was in Indien mit Menschen zu tun hat, wird in Millionen berechnet, nur die Tiger zählen bloß noch Tausende.

Man sagt, daß Indien Amerika und Europa wirtschaftlich bald hinter sich lassen wird. Ich stelle mir die Nächte ehrgeiziger Inder vor, gewürzt mit Träumen von Spendenappellen an den Subkontinent, der der schon wieder von einer Hungersnot bedrohten Landbevölkerung in Europa helfen soll. Faktisch gehört der Hunger und zunehmend auch die Klassendiskriminierung der Vergangenheit an.

Trotz der unübersehbar britisch geprägten Architektur und trotz des sprachlichen Erbes ist das stärkste Vermächtnis der Ära des Britischen Empires in Indien ironischerweise Indiens Nationalismus. Indien – das wie das Wort "Hindu" nach dem Fluß Indus benannt ist (abgeleitet von dem Sanskrit-Wort "Sindhu" für "Fluß") – bekam seine politische Form von den Briten. Es wurde als eine einzige Provinz definiert und als solche regiert mit einem gemeinsamen Gesetz, mit einer Sprache und Verwaltung. Sogar die Organisation, die später an der Spitze der Unabhängigkeitsbewegung stand, nämlich der Indian National Congress, wurde 1885 von einem Engländer, Allan Hume, gegründet und heimlich vom Vizekönig Lord Dufferin unterstützt! Anders als die Weißen in Amerika, die Bantu in Afrika oder die Maoris in Neuseeland rotteten die Briten die eingeborene Bevölkerung nicht aus bzw. assimilierten diese auch nicht. Stets blieben sie die "Sahib", die Herren.

Heute ist jeder Siebte auf der Welt ein Inder, und Hindhi ist nach Englisch und Kantonesisch die weltweit am dritthäufigsten gesprochene Sprache. Über eine Million Inder besitzen einen britischen Paß und leben in Großbritannien. Indien unterhält eine große Armee, verfügt über Atomkraftwerke und wird wahrscheinlich Anfang des neuen Jahrtausends die Atombombe haben.

Der kürzliche Besuch der Queen und des neuen britischen Außenministers Robin Cook auf dem Subkontinent war höchst aufschlußreich im Hinblick auf den augenblicklichen Zustand des indischen Nationalismus und die Schuldkomplexe von Weißen gegenüber Nicht-Weißen. Die westliche Presse interessierte sich vor allem dafür, ob die Queen sich für die von britischen Soldaten durchgeführte Erschießung von etwa 400 Zivilisten in Amritsar entschuldigen sollte bzw. würde. – Eine Episode der Kolonialära, die in Großbritannien durch Sir Richard Attenboroughs anti-britische Heiligengeschichte Gandhi Berühmtheit erlangte. Es wird jedoch nur selten daran erinnert, daß der Vorfall eine Reaktion auf Aufstände und die Morde an einigen Europäern darstellte.

Von viel größerem Interesse für Indiens obere Schichten war demgegenüber Robin Cooks Angebot, als Vermittler in der Kaschmir-Frage aufzutreten. Cook hätte keinen schlechteren Zeitpunkt wählen können, um dieses Thema auf den Tisch zu bringen. Der in diesem Jahr feierlich begangene 50. Jahrestag der Unabhängigkeit ist zugleich der 50. Jahrestag der Teilung Indiens. Indien, so erklärte man Cook, würde nicht im Traum daran denken, Großbritannien zu sagen, was es in Irland zu tun habe. Genausowenig sollte sich London in der Kaschmir-Frage einmischen.

War es nur Zufall, daß genau diese Parallele erst ein paar Tage zuvor im britischen Daily Telegraph gezogen worden war? Auch die jetzige Abstempelung der Engländer als eine "drittrangige Macht" durch den indischen Premierminister Gujral hat einen englischen Vorläufer. Es war Lord Curzon, der nach seiner Ernennung zum Parlamentarischen Unterstaatssekretär für Indien 1891 schrieb: "Solange wir Indien beherrschen, sind wir die größte Macht in der Welt. Wenn wir es verlieren, dann werden wir zu einer drittrangigen Macht absinken."

In Amritsar starben durch britische Kugeln ungefähr 400 Menschen. Die Zahl der Toten bei den Kämpfen, die die Teilung des Landes in die Indische Union und Pakistan begleiteten, wird auf 200.000 geschätzt. Moslems wurden in vielen Städten bei lebendigem Leib verbrannt. 17 Millionen Menschen verloren ihre Heimat. – Angesichts solchen Elends kann nur jemand, der besessen ist von Schuldgefühlen, sich an Amritsar erinnern und zugleich die Verbrennungen, Plünderungen und Vergewaltigungen von 1947 vergessen.

Indiens Anspruch auf Kaschmir ist mehr als nur der Anspruch auf eine Provinz. Er basiert auf einer Ablehnung der Existenz Pakistans als souveräner Staat. Für indische Nationalisten ist das Nachbarland ein künstlicher Staat, der vom Westen mit dem Ziel geschaffen wurde, einen pro-westlichen und einen anti-russischen Herrschaftsbereich in Südasien zu etablieren. Gujurati, die Sprache Pakistans, ist ein Hindhi-Dialekt, und die Menschen auf beiden Seiten der Grenze sind ethnisch die gleichen. Die Teilung trennte den Einzelhändler vom Großhändler, die Kuh von der Weide, den Konsumenten vom Produzenten, Bruder von Bruder.

Doch der Haß zwischen Hindus und Moslems, der zum Teil allerdings auch auf die koloniale Politik des Gegeneinander-Ausspielens der verschiedenen Gruppen zurückzuführen ist, geht viel tiefer als jede Animosität beider Seiten gegenüber den Briten. Während des Golf-Krieges waren etliche von Thatchers glühendsten, Fähnchen schwingenden Unterstützern Inder, die sich freuten, daß die "Eiserne Lady" dem die Stirn bot, was sie als die militärische Herausforderung des Islam ansahen.

Es gibt eine Art von anglo-indischer Elite, die in starkem Maße pro-britisch eingestellt ist und die Nehru bestenfalls als ein "notwendiges Übel" ansah. Diese Schicht pflegt im Umgang mit ihren Dienern ein zum Schmunzeln anregendes archaisches, imperiales Englisch und bringt der Masse des Volkes eine ignorante Geringschätzung entgegen, die den entsprechenden Attitüden der einstigen imperialen Herren in nichts nachsteht. Aber zugleich gibt es einen Hindu-Nationalismus, der auf einer tiefen anti-britischen Tradition fußt. Dieser Traditionsstrang leitet sich von Negativerfahrungen aus den Tagen der indischen Meuterei und der Parteinahme von Subha Chandra Bose (eines Studenten Nehrus und Präsidenten der Kongreßpartei) für die Achsenmächte her, die sich in der Existenz einer indischen Waffen-SS-Division sowie der auf seiten Japans kämpfenden "Freien Indische Armee" manifestierte.

Der Niedergang des fundamentalistischen Hinduismus wurde begleitet vom Aufstieg eines in bezug auf das Kastensystem moderateren, dezent anti-brahmanischen Hinduismus’, der aber militant anti-islamisch und nationalistisch ausgerichtet ist. Zur gleichen Zeit "verwestlicht" Indien schnell. Sicherer Verlierer auf dem Subkontinent ist die Natur, in der der Tiger und der Dschungel, die noch vor hundert Jahren das Indien-Bild vieler Leute dominierten, bald ganz der Historie bzw. der Obhut der Zoos angehören dürften.

 

Der einzige sichere Verlierer in Indien ist die Natur

Der Gedanke, daß Indien in absehbarer Zeit so blühend wie der Westen sein wird, widersetzt sich der Vorstellungskraft. Falls Indien Deutschlands Lebensstandard "genösse", würde das Land wohl gänzlich mit Gebäuden und Straßen bedeckt werden, da die große Mehrheit der 700-Millionen-Bevölkerung bisher dicht gedrängt in Bretterbuden lebt und zahllose Straßen noch immer nicht asphaltiert sind. Doch trotz des allgegenwärtigen abstoßenden Schmutzes ist der Druck auf die Umwelt aus Mangel an Technologie (nur wenige Leute besitzen ein Auto) weniger stark als in Europa oder Nordamerika. Die Bevölkerungsdichte ist niedriger als in Großbritannien oder in Deutschland.

Indiens Kinder, in Lumpen gekleidet und manchmal entstellt durch Krankheiten, lachen und spielen im Schmutz. Sie können spielen, weil keiner nachprüft, ob sie zur Schule gehen. Nie habe ich davon gehört, daß Kinder in Indien vergewaltigt oder getötet wurden, außer in Zeiten religiöser Unruhen. Das "Big Business" strebt grundlegende Veränderungen an, will Indiens Kindern die Schulpflicht bringen, Pornographie, Zahnfäule verursachende Süßigkeiten, immensen Fleischverzehr, Ignoranz gegenüber Tieren, Atheismus, modische Kleidung, Fernsehen, Computerspiele, Entfremdung von ihren Eltern, Respektlosigkeit gegenüber Älteren, Furcht vor Fremden und all die anderen Wohltaten der westlichen Zivilisation, die die meisten von ihnen noch entbehren müssen. – Die Appelle, die Armut zu bekämpfen, sind weder so "rein", wie sie scheinen mögen, noch ist die Armut ein völliges Übel.

Indien ist für den Briten heute eine Erinnerung, manchen bedeutet es gar nichts mehr. "Es war ein erschütternder Moment, eine erschütternde Ent-Täuschung", so beschrieb der britische Politiker Enoch Powell den Moment, als ihm die Unausweichlichkeit von Indiens Unabhängigkeit klar wurde. Hierin offenbart sich ein Empfinden,von dem ich vermute, daß es kein Deutscher verstehen, geschweige denn nachfühlen kann. Denn die Deutschen als Volk sind durch und durch nicht-imperialistisch eingestellt. – Vielleicht können es die Inder verstehen.


 
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