© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/97  14. November 1997

 
 
36. Kommandeurstagung in Berlin: Offiziere prägen den Geist der Truppe
"Deutschland verteidigen"
von Kai Guleikoff

 Erstmalig in der Geschichte der Bundeswehr hat eine Kommandeurstagung in Berlin stattgefunden. In dem hochmodernen Nobelhotel "Estrel" in der Nähe des S-Bahnhofes Köllnische Heide versammelten sich die rund 450 höchsten Offiziere der Bundeswehr mit den mitgereisten 250 Ehefrauen zu einer dreitägigen Veranstaltung. Das Herrenprogramm der Kommandeure stand unter dem Leitthema: An Bewährtem festhalten – Neue Aufgaben meistern.

Die zentralen Programmpunkte der Tagung waren die Reden des Bundeskanzlers, des Bundesverteidigungsministers und des Leiters dieser 36.Kommandeurstagung, des Generalinspekteurs Hartmut Bagger. Im Damenprogramm wurde dafür etwas weniger geredet und mehr auf Eindrücke aus kulturellen Begegnungen mit der Bundeshauptstadt Berlin Wert gelegt.

Ein stattliches Medienaufgebot war angerückt und erwartete vor allem Stellungnahmen zu den "rechtsradikalen Videos" und dem "Ende der Wehrpflicht". Standortkommandant Hans Helmut Speidel als Organisationsleiter sorgte durch Einsatz der Berliner Feldjäger dafür, daß der Ablauf der Beratungen ungestört und termingetreu erfolgte. Im Schulterschluß mit der Polizei konnte auch das weite Umfeld um die Tagungsstätte störungsfrei gehalten werden. Es entstand eine familiäre Atmosphäre, die am Abend des ersten Beratungstages mit dem Auftritt des bekannten Kabaretts "Die Distel" gewollt vertieft wurde. Bereits diese Rahmenbedingungen sollten auf die "neuen Aufgaben" einstimmen.

 

Veränderte Anforderungen an die Bundeswehr

Im Mittelpunkt der Kommandeurstagung standen die veränderten Anforderungen an die Bundeswehr als Armee im Auslandseinsatz und daraus abzuleitende Folgerungen für Führung, Erziehung und Ausbildung. Die Rede von Verteidigungsminister Volker Rühe am letzten Tag der Tagung stellte die neue Sicherungsordnung für Europa in den Mittelpunkt. Rühe, selbstsicher und locker auftretend, sprach über die Philosophie der NATO-Öffnung nach Osten und Südosten. Polen, Ungarn und Tschechien gehörten seit Jahrhunderten zum gleichen europäischen Kulturraum wie Deutschland, Frankreich und Italien. Wenn diese östlichen Nachbarn jetzt Mitglied der NATO und EU werden, sei das ein natürlicher und historisch folgerichtiger Schritt. Der politische und strategische Gewinn an Stabilität lasse sich mit Kosten nicht erfassen.

Rühe betonte, daß Bündnisse nicht von Waffensystemen zusammengehalten werden, sondern von den Männern und Frauen der Bündnisnationen in ihrem täglichen Zusammenwirken im "Geist der Allianz". Die hervorragenden Waffensysteme des zerbrochenen Warschauer Vertrages hätten den Untergang des imperialen Sowjetsystems nicht aufhalten können. Die Mitglieder der neuen NATO müßten deshalb in erster Linie auf die Zusammenarbeit im Bündnis vorbereitet werden. Dafür beispielhaft sei, so Rühe, die erst vor wenigen Wochen besiegelte Partnerschaft für ein gemeinsames multinationales Korps mit Sitz in Stettin unter Führung eines polnischen Generals, der in Deutschland ausgebildet wurde. Im Korps vereint sind die 14. Panzergrenadierdivision Neubrandenburg, die 12. polnische Panzergrenadierdivision Stettin und die dänische Jütland-Division.

Die Stabilität im Süden Europas verlange die Anzahl der Offiziere der deutschen Bundeswehr nach Zahl und Rang in den Hauptquartieren Madrid, Neapel und Verona deutlich zu erhöhen, wie es dem militärpolitischen Gewicht Deutschlands im Bündnis zukomme. Diesen neuen Aufgaben könnten nur mit einer deutlichen Erhöhung der Qualität von Führung und Erziehung begegnet werden.

Nach etwa 35 Minuten Redezeit kam Rühe schließlich auf die "schändlichen Vorfälle" in Detmold, Hammelburg und Schneeberg zu sprechen. Im Medienblock wurden die Zeitungen zur Seite gelegt, die Mikrofone angeschaltet und die Kameras positioniert. Doch Rühe sagte wörtlich: "Und ich lasse nicht zu, daß die Bundeswehr wegen der Verfehlungen Einzelner unter Generalverdacht gestellt wird. Denn insgesamt können wir auf unsere Armee stolz sein – und sie verdient auch Vertrauen." Langer Beifall der Kommandeure unterstrich diese Aussage. Der Inneren Führung müsse ein ungleich höherer Stellenwert eingeräumt werden. Im Kampf um den Erhalt der Oderdämme und beim Einsatz in Bosnien habe die Bundeswehr hohe internationale Akzeptanz erfahren. Mit sichtlichem Stolz erklärte Rühe in seiner Rede, daß amerikanische Generalstäbler über die Deutschen als "beste Soldaten Europas" sprächen. Ihre Unparteilichkeit, Menschlichkeit und militärische Professionalität würden allerorten gelobt – von den NATO-Kommandeuren, den Regierungen und vor allem von der Bevölkerung in Bosnien, Kroatien und Serbien.

So kehrten immerhin 85.000 Kriegsflüchtlinge freiwillig aus Deutschland in Gebiete zurück, die von deutschen Soldaten gesichert werden. Für das kommende Jahr werden rund 100.000 weitere erwartet. Im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien haben bisher 31.000 deutsche Freiwillige gedient. Diese Freiwilligkeit resultiere aus der Spezifik der Wehrpflicht in der Bundeswehr. Die geringe Wehrpflichtzeit von zehn Monaten werde immer häufiger freiwillig auf 18 bis 23 Monate gleitend verlängert. Professionalität bleibe nur erhalten in der Kombination von Berufs- und Zeitsoldaten, Grundwehrdienstleistenden und Reservisten. So finde ein ständiger "Blutaustausch" im "Körper" der Bundeswehr statt, so Rühe. Deutschland unterhalte als Volk von 80 Millionen Menschen mit 340.000 Soldaten eine relativ kleine Armee. Die "Schönwetterlage" der europäischen Nachbarschaft könne kein Garant dafür sein, die Verteidigungsanstrengungen weiter zu minimieren.

Rühes Lagebeschreibung: Deutschland grenzt teilweise an Staaten, die ökonomisch und militärisch schwach sind und im Konfliktfall von Drittstaaten schnell "überrollt" werden können. Die Aufwuchsfähigkeit der Streitkräfte kann nur über die Wehrpflicht wirksam erhalten werden. Bei einem starken Gegner müssen die Krisenreaktionskräfte solange hinhaltenden Widerstand leisten können, bis die Hauptverteidigungskräfte mobilisiert sind und zur Landesverteidigung bereitstehen. Unmißverständlich forderten die Amerikaner, daß Deutschland als europäische Zentralmacht den Hauptbeitrag für die europäische Verteidigung leisten muß.

An diesem Punkt betonte Rühe auffällig, daß die Bundeswehr in erster Linie Deutschland zu verteidigen habe und sich nicht im "Vorfeld" anderer Kontinente "herumtreiben" sollte. Deshalb bleibe auch die Wehrpflicht ein wichtiger Faktor für den verantwortlichen Umgang mit militärischer Macht: "Streitkräfte in der Demokratie dürfen keine Dienstleistungsagentur für das Kriegshandwerk werden. Es muß politisch schwierig bleiben, Soldaten in einen Einsatz zu schicken."


 
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