© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/97  28. November 1997

 
 
Historikerstreit: Kommunistische Verbrechen werden neu bewertet
Quelle des Terrors
von Hans B. von Sothen

Man kannte Kronstadt, wo Lenin erstmals selbst fanatische kommunistische Matrosen über den Haufen schießen ließ. Man kannte Katyn, wo Stalin Zehntausende polnischer Offiziere erbarmungslos massakrieren ließ. Und seit der Veröffentlichung des Romans "Der Archipel Gulag" von Alexander Solschenizyn erfuhren die meisten westlichen Intellektuellen erstmals etwas über ein Thema, über das sie schon viel früher hätten informiert sein können – wenn sie hätten informiert sein wollen.

Dies holen jetzt französische Historiker nach. Unter Leitung von Christian Courtois wurde erstmals der Versuch unternommen, die Zahlen der kommunistischen Verbrechen zu bewerten und zusammenzustellen. Die Bilanz ist erschütternd: In der Sowjetunion wurden wahrscheinlich etwa 15 Millionen Menschen für den Menschheitsfortschritt ermordet. Diese Zahl wird noch vom rotchinesischen Maoismus mit etwa 45 bis 72 Millionen Toten übertroffen. Die Roten Khmer in Kambodscha brachten es während ihrer kurzen Schreckensherrschaft (1975–1979) in ihrem kleinen Land auf 1,3 bis 2,3 Millionen Tote bei einer Einwohnerzahl von etwa 7 Millionen Menschen vor dem Genozid am eigenen Volk. Nordkorea, Lateinamerika, Osteuropa setzen diese Bilanz des Schreckens fort. Ein Menschheitstraum, der schließlich unter einem geschätzten Berg von bis zu 100 Millionen im Namen des Kommunismus ermordeter Menschen begraben worden ist.

Das Erstaunliche an diesen Veröffentlichungen: Nicht die grauenhafte und unvorstellbare Ziffer ist Gegenstand des Streites, sondern ihre Interpretation. Die Frage, ob die Verbrechen der Nationalsozialisten "einmalig" seien und mit nichts verglichen werden könnten und dürften, scheint zunächst ohne akademischen Wert zu sein.

Tatsächlich aber ist es eine Frage nach der Vergangenheitsbewältigung der deutschen Linken. Steht wirklich im Gegensatz zum Nationalsozialismus "am Anfang der Humanismus", wie es noch immer die Mehrheit der linken Eliten diesseits und jenseits des Rheins behauptet? Wenn aber der Weg zu diesem "unaufgebbaren Humanum" aus seiner inneren Logik heraus mit Millionen Leichen gepflastert ist, was bleibt dann von diesem Humanum? Dies ist der brisante Inhalt des Buches. Lenin und Stalin waren eben nicht irgendwelche "Ausrutscher" in der Geschichte einer Idee, die eigentlich gut war, sondern sie mußte aus der Notwendigkeit einer totalitären Ideologie in diese Katastrophe führen.

Natürlich wird sofort Ernst Nolte als Angstbild des deutschen Feuilletons bemüht. Und noch immer freut sich Heinrich August Winkler in der jüngsten Ausgabe der Zeit über vergangene Siege, die allerdings nun wieder bedroht scheinen: Die Abwehr von Noltes Thesen sei "unumgänglich" gewesen, "und sie war erfolgreich", so Winkler, denn: "Im deutschen Historikerstreit obsiegten die Kritiker Noltes." Mit weithin gefälschten Zitaten, vor allem im Falle Habermas, wie man heute weiß. Das hat inzwischen der Bremer Historiker Imanuel Geiss nachgewiesen. Daß man sich bei dieser betrüblichen Ausgangslage trotzdem als Sieger einer intellektuellen Debatte fühlt und zu Recht fühlen kann, ist bezeichnend für die geistige Lage dieses Landes.

Das Faktum der Beeinflussung des nationalsozialistischen Vernichtungssystems durch das bolschewistische Terrorsystem ist heute von fast allen seriösen Historikern diesseits und jenseits des Atlantiks unbezweifelt. Nicht nur die von Nolte beigebrachten Belege nähren diesen Verdacht, sondern auch die Tatsache, daß die Planer von Auschwitz vor Baubeginn Pläne russischer Konzentrationslager studiert haben und sich von Insassen dieser Lager haben erklären lassen, wie das in den sowjetischen Lagern vorgemachte Konzept der "Vernichtung durch Arbeit" funktionierte. Die Erforschung der kommunistischen Verbrechen steht noch am Anfang. Erst wenn sie ähnlich intensiv betrieben wird wie die NS-Forschung, wird man Gültiges über die Vergleichbarkeit – nicht Gleichheit – beider Systeme aussagen können.


 
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