© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/97  28. November 1997

 
 
Neue Bibliotheksregel: Vorrang für fremdsprachige Bezeichnungen ostdeutscher Geographika
Raubbau am deutschen Kulturerbe
von Wolfhart Unte

 

Vor kurzem sind die national verbindlichen Regeln für den Schlagwortkatalog (RSWK) von einer Expertengruppe, die im Auftrage des Deutschen Bibliotheksinstituts arbeitete, revidiert worden. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift Bibliotheksdienst nach und nach zur Stellungnahme durch die Anwender veröffentlicht und dann nach einer Verschweigefrist endgültig verabschiedet.

Als letzte der so zur Diskussion gestellten "RSWK-Mitteilungen" erschien mit Nr. 10 im Bibliotheksdienst Nr. 2, Februar 1997 u. a. eine Änderung des § 202 zu geographischen Namen des deutschen Ostens. Der Paragraph soll fortan lauten: "Geographika aus Gebieten, die in der Vergangenheit zu Deutschland oder zum deutschen Sprachgebiet gehörten, werden nur dann in der im Deutschen gebräuchlichen Form umgesetzt, wenn sie in einem gegenwärtigen, nicht auf die Vergangenheit bezogenen deutschsprachigen Nachschlagewerk nachweisbar sind. In allen anderen Fällen wird der fremdsprachigen Ansetzungsform der Vorzug gegeben." Trotz Widerspruchs beispielsweise seitens der Historischen Kommission für Schlesien und dem Westpreußischen Bildungswerk wurde im Juniheft des Bibliotheksdienstes die Annahme der Regel mitgeteilt, ohne daß etwas zu den eingegangenen Einwänden gesagt wurde.

Die neu gefaßte Vorschrift ist völlig unannehmbar, weil damit alle nicht in den neuesten Ausgaben der Enzyklopädien von Brockhaus oder Meyer enthaltenen Ortsnamen und anderen Geographika (wie Berge, Flüsse, Seen und Landschaften) der Oder-Neiße-Gebiete und überhaupt des früheren deutschen Sprachraumes – und das sind viele – in fremdsprachiger Form aufgeführt werden. Zu denken ist dabei u. a. an die zahlreichen Orte, deren frühere deutsche Bewohner jetzt, wo die Erlebnisgeneration noch da ist, ihre Heimatchroniken verfassen. Die Namen der oft sehr kleinen Orte stehen nun nach den neuen Regeln in fremdsprachiger Form in deutschen Katalogen und Datenbanken. Dabei ergibt sich die Absurdität, daß fremdsprachige geographische Bezeichnungen verwendet werden bei der Beschlagwortung von Literatur zu Epochen, in denen diese Namen überhaupt noch nicht existierten. Nicht nur für die Heimatvertriebenen ist eine solche Eliminierung der ihnen vertrauten Ortsnamen eine unerträgliche Brüskierung. Es ist der Versuch, deutsches Kulturgut – denn das sind die deutschen Ortsnamen und anderen Geographika – bewußt und gezielt zu vernichten und widerspricht der von der Bundesregierung propagierten Politik, das eigene Kulturerbe zu erhalten und zu pflegen.

In der begonnenen Diskussion über die Neuerung wird von den bibliothekarischen Stellen eine politische Argumentation vermieden. Man verweist vielmehr darauf, daß durch die Führung der heutigen Kataloge als Datenbanken auch die Suche unter dem deutschen Namen, der als Verweisungsform vorliegt, möglich ist. Dem ist entgegenzuhalten, daß eine Gleichrangigkeit der Bezeichnungen nicht besteht, denn die fremdsprachige Ansetzungsform bleibt dadurch dominant, daß sie für die Anzeige in Schlagwortketten gewählt wird. Das zeigt die gedruckte Ausgabe der Deutschen Nationalbibliographie, wo aus diesem Grunde bei den Beschlagwortungen nur die fremdsprachige Namensform erscheint. Da die gedruckte Ausgabe noch immer die größte Verbreitung hat, ist das besonders mißlich.

Es ist auch nicht so, daß die RSWK nur für Kataloge, die als Datenbanken organisiert sind, als Regelwerk zugrundegelegt werden. Viele kleine, konventionell arbeitende Bibliotheken – gerade im Bereich des öffentlichen Bibliothekswesens – benutzen ebenfalls diese Vorgaben. Daß es im Interesse des internationalen Datenaustausches notwendig ist, die offizielle amtliche Bezeichnung zu wählen, ist ein sehr weit hergeholtes Argument, das höchstens bis zu einem gewissen Grade für die Formalkatalogisierung gilt, nicht jedoch für die Sachkatalogisierung. Die RSWK selbst und die auf ihnen basierende Schlagwortnormdatei verfahren denn auch bei anderen Namensansetzungen entsprechend frei; beispielsweise steht Mailand unter "Mailand", nicht unter "Milano", auch Breslau wird – gemäß der Ansetzung im neuen Brockhaus – sein deutscher Name zugestanden. Ebenso wird bei den Regeln für die Namensansetzung von Körperschaften die Kompatibilität im internationalen Rahmen nicht überall berücksichtigt (beispielsweise erscheint in deutscher, nicht in polnischer Namensform: "Krakau/Jagellonische Universität"). – Warum aber muß bei den Orten des deutschen Ostens, die nicht im neuen Brockhaus oder Meyer enthalten sind, anders verfahren werden? Für einen etwaigen internationalen Datenaustausch dürfte es auch bei Gebrauch der deutschen Bezeichnung für die EDV nicht schwer sein, aus den selbstverständlich in Verweisungsform vorliegenden fremdsprachigen Namen die für einen Tausch gewünschten Daten zu gewinnen.

Das Prinzip, in der Regel die im Deutschen gebräuchlichen Ansetzungen zugrundezulegen, ergibt sich demgegenüber aus den Benutzerbedürfnissen. Mit den fremdsprachigen Ansetzungen können die Nutzer meistens einfach nichts anfangen. Im übrigen: Auch in anderen Ländern wird so verfahren, daß Geographika bei der sachlichen Erschließung in der Landessprache angesetzt werden (Beispiele bieten die Nationalbibliographien). In Polen, Tschechien, aber auch in Frankreich oder Italien käme wohl niemand auf die Idee, diese Praxis in Frage zu stellen.

Schließlich ist noch auf das Argument der Orientierung an gängigen Nachschlagewerken einzugehen. Es ist unbestritten, daß eine Normierung notwendig ist und daß Meyer und Brockhaus in ihren neuesten Ausgaben grundlegende Hilfsmittel für die Beschlagwortung sind; die in ihnen verzeichneten Namen von Orten des deutschen Ostens, die dort in deutscher Form stehen, sind auch meistens unproblematisch. Anders ist es mit den dort nicht enthaltenen Namen; hier sollte die deutsche Ansetzung nach zuverlässigen regionalen Nachschlagewerken wie beispielsweise dem "Amtlichen Gemeinde- und Ortsnamenverzeichnis der Ortschaften jenseits von Oder und Neiße" oder den verschiedenen Bänden der "Historischen Staaten Deutschlands" (Kröner) erfolgen, auch wenn die Expertengruppe das offenbar anders sieht, weil diese Werke "auf die Vergangenheit bezogen sind". Aber schließlich handelt es sich zum großen Teil um historische Lektüre, die zu bearbeiten ist.

Ganz offensichtlich ist die Änderung der bisherigen Ortsnamen-Regelung aus politischen Motiven vorgenommen worden. Von bibliothekarischer Seite besteht hierzu jedenfalls kein Anlaß.


 
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