© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/97  28. November 1997

 
 
Mut zur Bildung
von Georg Schmelzle

 

Seit Jahren ist im Hochsommer das stets gleiche Ritual zu beobachten: Horrormeldungen über fehlende, zehntausende Lehrstellen, Appell an die Arbeitgeber, Selbstverpflichtungen des Mittelstandes, Einrichtung von Sonderausbildungen schulischer Form, die kein Betrieb anerkennt und Prämien für Betriebe für Mehrausbildung. In diesem Jahr kam noch eine andere Variante hinzu: Der Bundesbildungsminister behauptet, daß 100.000 Lehrstellen von Abiturienten blockiert werden, die man dringend für andere Bewerber brauche. Die Abiturienten gingen nach der Lehre doch nur ins Studium und diese Nachwuchskräfte seien für die Betriebe verloren.

Am anderen Ende, bei der Hochschulbildung, schlagen die Professoren bei über zwei Millionen Studierenden Alarm. Die arbeitslosen Akademiker nehmen sprunghaft zu. Niemand will zugeben, daß die Auslese für den wissenschaftlichen Nachwuchs, die Staatsbeamten und Freie Berufe schon seit der Einführung der sozialistischen Bildungseuphorien in den siebziger Jahren nicht mehr funktioniert. Der Erfolg der Lehrer wird allein daran gemessen wieviele Schüler sie "begaben können" und nicht, wie befestigt der Wissensstand ihrer Zöglinge ist. Schlechte Klassenarbeiten und Wiederholer sind nur Schuld des Pädagogen und bei Mißerfolgen ihrer Kinder laufen Eltern oft zumKadi. Früher wurde es als normal hingenommen, daß noch die Hälfte der Sextaner beim Abitur ankam und ein Viertel davon noch ein Jahr doppelt machte. Die Durchschnittsnoten der Abiturzeugnisse lagen bei 2,9. 80 Prozent der Maturanten studierten, zwei Drittel davon bestanden ein Examen mit Durchschnitt 2,5 und hatten keine Schwierigkeiten mit einer Anfangsstellung, die nach einer Probezeit das Gehalt eines Regierungsrates brachte. Vor der Großen Koalition von 1967machten aber nur 7 Prozent eines Schülerjahrgangs das Abitur, heute sind es über 30 Prozent.

Nur tendenziell ist die Bildungssituation in den Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern noch besser, wo nicht allein der Elternwille über den Zugang zu den höheren Schulen entscheidet. In Bayern gibt es am Ende des vierten Grundschuljahres eine Schullaufbahnempfehlung; wer gegen die Empfehlung noch auf eine höhere Schule will, muß sich einem Probeunterricht unterziehen. Eine vertrauenswürdige Grundschullehrerin erzählte einmal, daß sie in München-West in einem Eigenheim-Gebiet 12 von 26 Schülern empfahl, obwohl sie bei sechsen Bauchschmerzen hatte – aber wer will sich denn schon mit den Eltern vor Gericht wiedertreffen! – sechs weitere bestanden den Probeunterricht noch, denn es soll ja neue Studienratsstellen geben. Den Rest übernahm die Realschule – immerhin wird aber in den süddeutschen Ländern die "Mittlere Reife" nur nach einer schriftlichen und mündlichen Prüfung vergeben, während in den norddeutschen Ländern dieser Abschluß zu einem Billigangebot verkommt. Der "qualifizierte Sekundarabschluß I", der zum Weiterbesuch im Gymnasium oder in den Fachgymnasien berechtigt ist immer leichter zu erreichen. Notfalls kann man sogar zwei "mangelhaft" mit zwei "gut" ausgleichen. Viele Realschüler, denen diese Qualifikation noch fehlt, können in einem Jahr Berufsfachschule dieses Manko ausgleichen und noch zum Abitur durchstarten, das sie dann mit einer zweiten Fremdsprache erlangen können, die sie erst im 11. Schuljahr beginnen. In der Realschule brauchen sie wahlfrei Französisch nicht zu haben.

In den norddeutschen Ländern gibt es noch den "realschulgleichen Abschluß" für Hauptschüler mit einem 10. Schuljahr ohne Prüfungsabschluß. Er schafft nur Lehrerstellen und hält praktisch begabte junge Menschen vor einem einführenden Berufsgrundbildungsjahr und einer sinnvollen Lehre im Handwerk und Handel ab.

Ganz modern stellt sich die Lage in den neuen Bundesländern dar: Außer in Mecklenburg-Vorpommern hat man die Hauptschule einfach abgeschafft und kennt nur noch das Gymnasium und eine "Mittelschule" mit 10 Pflichtschuljahren. In Brandenburg marschiert man auf die Gesamtschule zu und Sachsen-Anhalt wird folgen. Durch den Mangel an Lehrstellen bei dem erst im Aufbau befindlichen Mittelstand (Handwerk, Handel und Freie Berufe) ergibt sich die Situation, daß viele Schüler aus den neuen Bundesländern in Lehrstellen im Westen streben – dort nehmen sie mit Lehrstellen vorlieb, die selbst in traditionellen Arbeitslosengebieten (Ostfriesland, Oberpfalz) von den dortigen Jugendlichen verschmäht werden. Man denke nur an die Hotellerie, Bäcker, Fleischer, Fleischwarenverkäufer. In diesen Berufen stellen sie oft die besten Abschlüsse – denn nur gute Leute wandern und halten Familientrennung durch. Junge Menschen in der ehemaligen DDR waren an Lehrstellen weit entfernt von zu Hause und Lehrlingswohnheime gewöhnt und für die Kinder der Selbständigen ist diese Lehre im Westen nur zu begrüßen, viele andere gehen aber dem Aufbau verloren und machen im Westen die Verschulung von geeigneten Bewerbern noch leichter.

In den westlichen Bundesländern fehlen nicht zuerst Lehrstellen, sondern die qualifizierten, motivierten Bewerber für die Handwerks- und Handelsberufe, deren Prüfungsanforderungen von Jahr zu Jahr gesteigert werden und nur durch die teilweise programmierten Prüfungen umgangen werden können. Eigentlich müßten sie überwiegend in Stufenausbildungen geboten werden, wie früher Verkäufer/Einzelhändler und Hochbaumaurer und Baufacharbeiter, denn ausgelernte Gesellen und Gehilfen mit schwachen Abschlüssen sind in ihrer tariflichen Einstufung zu teuer und werden entlassen und durch Spätaussiedler und Gastarbeiter ersetzt, die ohne diesen Abschluß niedriger eingestuft werden können.

Wenn also die Banken, der Mittelstand und die freien Berufe zunehmend auf Abiturienten als Auszubildende zurückgreifen, dann liegt das daran, daß sie nur noch unter ihnen fähige Bewerber ergattern können, obwohl die Jahre der Sekundarstufe II kaum Lehrinhalte bieten, die auf diese Berufe vorbereiten. Absolventen der Fachgymnasien und Fachschulen besetzen die Lehrstellen, die früher Inhaber der Mittleren Reife bekamen – nur drei oder vier Jahre später.

Bei den Realschülern setzt die Berufsberatung immer erst mit dem Hinweis an, die Eltern sollten prüfen, ob nicht noch das Abitur möglich ist, obwohl bei fehlendem Willen und Können zum Studium die drei Jahre der Sekundarstufe II völlig überflüssig sind und nur die Anpassungsfähigkeit an die Arbeitswelt im Lehrberuf erschweren. Der Berufsberater aber hat auf diese Weise eine intensive Berufsberatung erst einmal eingespart.

Von der Grundschule muß sichergestellt werden, daß jedes Kind den Unterricht bekommt, der es am besten fördert. Es hat keinen Sinn, potentielle Sonderschüler zwei Jahre mitzuschleppen. Schließlich müssen Aufnahmeverfahren für Real- und Oberschulen geschaffen werden, die verhindern, daß oft ein Viertel in den weiterführenden Schulen ist, das dort nur den Lehrablauf hemmt. Die Auslese im Leben kommt sicher, aber je später sie kommt, desto härter kann sie sein. Zunehmend stellt die Wirtschaft fest, daß es heute schon Abiturienten gibt, die einfach durch den Massendruck der Nichtleistung zu ihrem Abschluß gekommen sind. Die Lehrer sind hilflos gegenüber der Niveausenkung und der mangelnden Schuldisziplin. Selbst führende Pädagogen wie Hermann Giesecke ("Wozu ist die Schule da?", Stuttgart 1996) schreiben, daß die Schule 30 Jahre brauchen wird, um wieder normal zu werden.

Der Verfasser erinnert sich noch gut daran, mit wieviel Stolz er als junger Berufsschullehrer anläßlich eines Lehreraustausches mit den USA 1971 vor der Eltern- und Lehrerversammlung einer US-High-School bei Philadelphia ein Referat über unser deutsches Schul- und Berufsschulsystem hielt. Seine Ausführungen wurden mit standing ovation von fünf Minuten belohnt und der Direktor der Schule umarmte ihn unter Tränen und sprach ins Mikrofon: "Oh, hätten wir doch so ein Berufsschulsystem mit vier Tagen Arbeit und einem Tag Schule, das unseren Schülern in den Beruf helfen würde!" Damals schaffte schon fast jeder Schüler in den USA das "High-School-Certificate" und durfte sich die Fächer aussuchen. Aber alle Colleges mit happigen Studiengebühren und die Universitäten verlangten Aufnahmeprüfungen, viele Schüler waren daher gleich anschließend arbeitslos. Alles Ergebnis einer Gesamtschule, die wir so gern kopieren wollten, obwohl wir durch Filme wie "Saat der Gewalt" hätten schon 1960 gewarnt sein sollen. Unterdessen gibt es diese Gewalt an den Schulen auch bei uns aus Frustration über die Zukunftschancen.

Wir verspielen in Deutschland an der Schule unseren einzigen Rohstoff, den wir noch haben: unsere Begabungen, unseren Leistungswillen, und unsere Arbeitsdisziplin – heute nur noch repräsentiert in der Facharbeiterschaft, im Mittelstand und im älteren Management. Der Wind wird rauher in einem Europa ohne Grenzen, Produktion, die einmal in kostengünstigere Länder abgewandert ist, ist kaum mehr zurückzuholen. Wir können in Deutschland nicht nur zusammenbauen und vermarkten. Ein Drittel unseres Sozialproduktes muß mit dem Export verdient werden. Es kann uns nicht trösten, daß die Volkswagengruppe 1995 die meisten Autos ihrer Firmengeschichte gebaut hat, wenn wir wissen, daß in Deutschland weniger hergestellt wurden. Unsere hohen Reallöhne und die soziale Sicherung verlangen auch mehr Leistung als in anderen Ländern mit einem niedrigeren Niveau. Miese Berufsabschlüsse mit Tarifgarantie führen direkt in die Arbeitslosigkeit – Gastarbeiter machen es besser und billiger. Wir können uns nicht auf Spätaussiedler und Zuwanderer allein verlassen. Leistung wird in der Schule vorbereitet und muß bei ihren Anforderungen wieder einen höheren Stellenwert bekommen. Bildungseuphorien gefährden den Standort Deutschland.


 
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