© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/97  28. November 1997

 
 
Im Gespräch: Alfred Schickel über die Geschichtsschreibung
Revision und Wandel
von Jürgen Mohn

Herr Dr. Schickel, die Zeitgeschichtliche Forschungsstelle Ingolstadt (ZFI) beschäftigt sich seit ihrer Gründung 1981 intensiv mit der Kriegsschuldfrage und der deutsch-tschechischen Geschichte. Wird es künftig weitere Schwerpunkte geben?

SCHICKEL: In den nächsten Jahren wird sich die Forschungsstelle mit Vorzug den osteuropäischen Staaten und ihrer Geschichte widmen. Sie will damit nicht nur die immer noch klaffende osteuropäische Bildungslücke schließen helfen, sondern auch die Folgen der Ereignisse von 1945/46 mit ihren millionenfachen Vertreibungen zur Erörterung stellen.

Werden neben den Archivstudien auch individuelle Anfragen bearbeitet?

SCHICKEL: Wie schon in der Vergangenheit bemühen wir uns auch in Zukunft um die Beantwortung von Einzelanfragen. Schwieriger – weil zeitaufwendiger – wird es dann mit erbetenen Gutachten oder Stellungnahmen zu kompletten Buchmanuskripten, die uns in wachsender Zahl zugeschickt werden. Eine Arbeit von 200 bis 300 Seiten will nicht nur gelesen, sondern in den meisten Fällen auch verifiziert werden. Und das dauert manchmal seine Zeit.

Im Interview mit unserer Zeitung sprach kürzlich Günter Maschke von einer spezifisch deutschen Form der "Vergangenheitsbewältigung", die jede historische Debatte überlagere …

SCHICKEL: ... eine ebenso verbreitete wie deplacierte Bezeichnung für die objektive und möglichst unbefangene Erhellung der Vergangenheit, die sich die Geschichtsschreibung als Aufgabe zu stellen hat. Vergangenes kann man nicht mehr "bewältigen", weil es schon geschehen ist, sondern kann den Nachgeborenen allenfalls als Warnung oder als Ermunterung dienen. In diesem Verständnis trifft die Feststellung zu, daß nur der die Zukunft glücklich gestalten kann, der die Vergangenheit kennt und aus ihr die Gegenwart begreift.

Könnten Sie ein Beispiel nennen?

SCHICKEL: Ein aktuelles Beispiel für die Richtigkeit dieser Einsicht hätte die deutsch-tschechische Erklärung von Prag sein können.

Inwiefern "hätte"?

SCHICKEL: …als sie einerseits goldrichtig konstatiert, "daß der gemeinsame Weg in die Zukunft ein klares Wort zur Vergangenheit erfordert" – wörtliches Zitat – und ebenso treffend hinzufügt, daß dabei Ursache und Wirkung in der Abfolge der Geschehnisse nicht verkannt werden dürfen, dann aber andererseits in der Aufzählung der konkreten Ereignisse willkürlich beim Jahr 1938 einsetzt und die gesamte Vorgeschichte wegläßt. Die Vorgänge des Jahres 1938 sind jedoch ohne die Weichenstellungen von 1918/19 nicht denkbar.

Gibt es nicht eine deutsch-tschechische Historikerkommission?

SCHICKEL: Ja. Aber offensichtlich durfte sie nur den löblichen Vorsatz formulieren und war dann nicht mehr gefragt. Für diese Vermutung sprechen auch einige weitere zeitgeschichtliche Aussagen im Text dieser Erklärung.

Noch einmal zurück zu dieser wichtigen Trias Gewesenheit – Aktualität – Zukünftigkeit, durch die sich alles Gegenwärtige bestimmt. Das Zeitalter der Weltkriege wird seit Jahrzehnten zu Lasten Deutschlands beschrieben. Die Folgen: die Lösung anstehender politischer Aufgaben wird immer mehr belastet durch den Verweis auf eine – verzerrte – Geschichtsdarstellung und -interpretation. Wird nun aber der ZFI nicht gerade die Re-Vision und Korrektur unserer jüngeren Geschichte zum Vorwurf gemacht?

SCHICKEL: Die ZFI will mit ihren Arbeiten keine Meinungen liefern oder Ideologien nähren, sondern ausschließlich der erkannten historischen Wahrheit verhaftet sein und ihrer Vermittlung dienen. Das Bundesverfassungsgericht veröffentlichte 1994 eine Entscheidung, in welcher es die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit absteckte und dabei u.a. feststellte: "Artikel 5, Absatz 3 Satz 1 GG (Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei) schützt… nicht eine bestimmte Auffassung von Wissenschaft oder eine bestimmte Wissenstheorie. Das wäre mit der prinzipiellen Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit unvereinbar, die der Wissenschaft trotz des für sie konstitutiven Wahrheitsbezugs eignet."

Was bedeutet das nun speziell für Ihre Arbeit?

SCHICKEL: Das bedeutet, daß es keine offizielle Geschichtsschreibung gibt, sondern der Wissenschaft prinzipielle Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit eignet. Eine Feststellung, deren Richtigkeit die Forschungsstelle bei ihren Archivarbeiten immer wieder erfahren hat. Im übrigen hebt das Bundesverfassungsgericht in seinen weiteren Erläuterungen auch die Praxis und wissenschaftliche Pflicht hervor, gewonnene Erkenntnisse und erzielte Forschungsergebnisse laufend der Nachkontrolle auf ihre weitere Gültigkeit zu unterwerfen: "Auffassungen, die sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt haben, bleiben der Revision und dem Wandel unterworfen". Damit wird das mittlerweile ideologiebeladene Wort "Revision" bzw. "Revisionismus" auf seine eigentliche Bedeutung zurückgeführt und gesagt, daß bislang verbreitete Geschichtsdarstellungen und Interpretationen nicht als für alle Zeit unverrückbar und verbindlich anzusehen sind, sondern sich der Überprüfung und Ergänzung, wenn nicht gar der Korrektur offenzuhalten haben.


 
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