© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/97  05. Dezember 1997

 
 
Studentenprotest: Überfüllte Universitäten und knappe Kassen
Beginn einer Revolte
von Caroline Schieffer

Der Erfolg der Protestaktionen scheint auf das erste beeindruckend: Wenn 40.000 Studenten zum Marsch auf Bonn aufbrechen, dann gerät die Medienwelt in Verzückung: Journalisten präsentieren das aufregendste Medienereignis seit dem Fall der Mauer, Politiker demonstrieren Bürgernähe, Professoren solidarisieren sich mit den Protestierenden. Allenthalben nichts als Verständnis: überfüllte Seminare, Gedränge an den Laborplätzen, Kampf um Bücher in den Bibiotheken, Stellenabbau auf allen Ebenen, dazu die Leiden der zu ewigem Jobben verdammten Langzeitstudenten…

Bei soviel Verständnis von allen Seiten verglimmt – vorerst noch? – der über Jahre angereicherte akademisch-soziale Zündstoff: ständig wachsende Abiturientenjahrgänge, die ihr Recht auf Bildung, genauer auf einkommens- und statusträchtige Anstellungen einfordern; 1,8 Millionen Studenten, von denen trotz sinkender akademischer Standards nur die Hälfte je zum Examen gelangen; überfordert die einen, vereinsamt die anderen, von Zukunftsängsten geplagt selbst die Strebsamsten; Andrang an den psychologischen Beratungsstellen, "Frust" als ideologisch aufladbare Basisdisposition an den Massenuniversitäten, in den Kneipen, in der Szene.

Während der berufsbildende Sektor in der Bildungseuphorie der 70er und 80er Jahre zusehends vernachlässigt wurde, der Sozialstaat in den letzten Winkel der Gesellschaft expandierte, avancierte der Universitätsabschluß für alle zum sozialpolitischen Leitbild. In der sozialliberalen Ära wuchsen die Planstellen im Sekundarschulbereich und in den Hochschulen, während die Wachstumsraten in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung schrumpften. Die erste "Wende" 1982: In der Ära Kohl etablierte sich der Schlendrian als optimistisch strahlende Staatsdoktrin, geistig überhöht durch die grüne 68er-Mischung aus Moral, Hedonismus und Selbstverwirklichung.

Als die Mitteldeutschen der schwarz-gelb-rot-grünen Wohlstandspartei die Wiedervereinigung einbrockten, erstickte man die im Volke vorhandene Bereitschaft zum Neubeginn – Solidarität, Leistung, Disziplin – mit leichtfertigen Versprechungen. Die deutsche demokratische Revolution verkam zur "Wende". Es begann die große Schuldenfete, genannt Kapitaltransfer, Aufbau Ost. Es blieben noch immer Milliarden genug für die vielen "Zuwanderer", die man im Vollbewußtsein neudeutscher Ideologie willkommen hieß, um die unangenehme Euphorie der Deutschen über den alt-neuen Nationalstaat zu dämpfen.

Die Pleite kündigte sich auf allen Ebenen an. Die bereinigten Wachstumszahlen blieben mager, die Steuerquellen versiegten, die Defizite in den Haushalten von Bund, Länder, Gemeinden weiteten sich zu schwarzen Löchern aus. Da Patriotismus nicht zu den Vokabeln der Volkswirtschaft gehört, verlagerten die Betriebe ihre Produktion ins produktionskostengünstige Ausland, ängstliche Kapitalanleger brachten im Lande benötigtes Investitionskapital ins sichere Ausland. Die von den Medien gelobten Streichkommissare traten an zum Kampf für die Sanierung der öffentlichen Finanzen. Deren Rezepte: Stelleneinsparungen, Verscherbeln von Liegenschaften und Anteilen der öffentlichen Hand, Streichung aller Mittel zunächst in jenen Bereichen, wo sich am wenigsten Widerstand regt, zuletzt aber auch in den Bereichen Kultur und Bildung.

Von der allgemeinen deutschen Misere im siebten Jahr der Wiedervereinigung ist in den Reden, Flugblättern, Streikzeitungen der Protestführer natürlich keine Rede. Die Asten, von denen die Aufrufe ("Lucky Streik") im üblichen Kauderenglisch ausgehen, sind mehrheitlich "links", "Streik für freie Universitäten" heißt es auf mit dem charismatischen Konterfei von Rudi Dutschke – war der ob seiner Fixierung auf die "nationale Frage" nicht eigentlich doch "rechts"? – beklebten Plakaten. Als Feindbild dient allenthalben der Kanzler Kohl. Es geht gegen den Euro-Fighter, im übrigen heißt es: "Bildung negiert, Dummheit regiert". Sodann die Erfolgsmeldung: 50 Hochschulen haben sich dem Streik bereits angeschlossen. Auffälligerwiese fehlen bislang in der stolzen Liste – mit Ausnahme der Humboldt-Universität und der Martin-Luther-Universität Halle die "ostdeutschen" Hochschulen. Im übrigen steht die Streikfront, und man freut sich auf die nächste Großdemonstration am Brandenburger Tor am 4. Dezember.

Die Szenerie des Protestes ist seltsam friedlich, und bis auf die im Humboldt-Innenhof herumliegenden Mensa-Teller für die "Streikposten" gar ungewohnt ordentlich, fast aufgeräumt. Vom fernen Grollen einer Revolution ist nichts zu vernehmen. Fehlt es den studentischen Aktivisten derzeit noch an den zündenden Parolen – dies im Unterschied zu den legendären 68ern? Begnügt sich die breite Mehrheit diesmal mit ganz friedlichem Protest? Dann können die liberalen Professoren, die rot-grünen Ministerien und die besonders ungeliebte Regierung Kohl in Bonn beruhigt sein. Im übrigen erklärt der Realo Fischer den ungläubigen Protestlern, was ihnen Kanzler Kohl nicht sagen will: Die Kassen sind leer, da ist auch für die grün wählenden Studis nicht viel zu holen. Ergo: Der Protest wird sich verlaufen, nach Weihnachten, im neuen Jahr geht’s dann nur noch um die nachträgliche Anerkennung der Scheine für die versäumten Übungen und Seminare. Ein friedlicher, demokratischer, folgenloser Protest. Wir alle sind noch einmal davongekommen.

Es kann aber auch ganz anders kommen. Die jahrelang konservierten, ignorierten Zustände bergen eine kritische Masse. Was sich im Hochschulbereich abspielt, ist nur ein Symptom der umfassenden Malaise. In Ost (und West) ist zu hören, die Stimmmung im Lande, ähnele der Atmosphäre der DDR zu Beginn des Jahres 1989. Dann wären die Protestaktionen der Studenten nur ein harmloser Vorgeschmack dessen, was in einer gesellschaftlichen Krise alles möglich ist. Zum großen Eklat bedarf es – anders als 1968 – auch keiner "kritischen Theorie". Dem studentischen Protest täte hingegen etwas mehr Theorie – kritische Analyse der unerfreulichen Wirklichkeit – in der Tat gut. Dann bliebe vom freundlichen Verständnis der Politiker für ihre Nöte wenig übrig…

Lesen Sie weitere Berichte und Kommentare auf Seite 2 und 8


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen