© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/97  05. Dezember 1997

 
 
Ausstellung: "Körperbilder" im Technik-Museum Mannheim
Mehr als nur eine Leiche
von Martin Otto

Zu Shakespeares Zeiten seien, wurde Alexander Kluge einmal von Heiner Müller belehrt, die Leichenschauhäuser eine große Konkurrenz für das Theater gewesen, und dies auch nicht von ungefähr: "Das einzige, worauf man ein Publikum einigen kann, worin ein Publikum einig sein kann, ist die Todesangst, die haben alle." Der Tod als Wesenselement des Theaters.

In Mannheim, theatergeschichtlich sicher nicht der unbedeutendste Ort, waren sich alle einig, einig, einig. In Scharen, von denen neben deutschen Theatern auch Sonntagsgottesdienste, Maidemonstrationen und Bundesligastadien nur träumen können, strömten sie auch in der Novemberkälte zum Landesmuseum für Technik und Arbeit in der kurpfälzischen Metropole. Ziel des ungeheuren Publikumandrangs war eine ganz besondere Abwandlung des Leichenschauhauses als Theatersurrogat, nämlich die Ausstellung "Körperwelten – Einblicke in den menschlichen Körper", laut musealer Eigenwerbung "eine faszinierende Schau zur Anatomie des Menschen".

Anhand von "über 200 echten menschlichen Präparaten, darunter ganze präparierte Körper, einzelne Organe und transparente Körperscheiben" soll der Besucher "einzigartige Einblicke in die Welt des gesunden und kranken Körpers" gewinnen.

Veranstaltet wird diese Körperschau vom Mannheimer Landesmuseum und dem "Institut für Plastination Heidelberg". Letztgenanntes Institut hat eben mit gänzlich neuen Präparationsverfahren mit Azeton der Pathologie neue Wege erschlossen. Das Ergebnis ist verblüffend: Muskeln, Nerven oder Organe präsentieren sich dergestalt konserviert wie einstmals nur das vertraute Schulskelett. Altväterliche Präparate in der Art von Embryonen, Organenen und Siamesischen Zwillingen in Spiritusgläsern scheinen hier allemal der Vergangenheit anzugehören. Die Grenze zwischen anatomischem Präparat und wetterfestem Plastikmodell ist hier überschritten. Erfinder ist der Heidelberger Pathologieprofessor Gunther von Hagens, ein Mediziner mit unbezweifelbarem Hang zur Präsentation und Selbstdarstellung. Jederzeit mit schwarzem Hut bekleidet, präsentiert sich der in Fachkreisen nicht unumstrittene Hagens auch während der Ausstellung zwischen "seinen" Präparaten, ein Joseph Beuys der Medizin eben.

Der Andrang scheint ihm Recht zu geben. Prophylaktisch ging das Landesmuseum auf die möglichen Vorbehalte gegenüber der in Deutschland bislang einzigartigen Ausstellung ein. Von "Gratwanderung zwischen Information auf wissenschaftlicher Basis und der Verletzung ethischer und moralischer Empfindungen" war die Rede. Fast entschuldigend heißt es, man habe sich "in den Grenzbereich des für ein Museum Möglichen" begeben; außerdem sei man "an einer kritischen Diskussion interessiert".

Die Besucher, die sich – bezeichnenderweise am Volkstrauertag – in der Mannheimer Museumsstraße brav anstellten, scheinen dieses Angebot ernstgenommen zu haben. Die Menschenschlange erreichte Ausmaße, die an das Moskauer Leninmausoleum in seinen besten Zeiten erinnerte. Ganze Familien nahmen Wartezeiten von eineinhalb Stunden in der spätkapitalistischen Wartegemeinschaft auf sich, einträchtig versammelt in dem Willen, Leichenteile, wenn auch meisterlich präpariert, zu sehen. Die Besucher waren fast durchweg brave Bürger; es überwogen jene sympathischen Mitmenschen, die man im leichengeil gaffenden Pöbel etwa nach einem schweren Autounfall (hoffentlich zu Recht) kaum vermutet. Wenn man bedenkt, daß Tod und Sterben heute überwiegend auf die Intensivstationen und anonyme Urnengrabstätten verdrängt werden, wird umso deutlicher, daß die Neugier auf den Tod sich in Wahrheit allen Modernisierungsschüben widersetzt. Nur Kindern unter vierzehn Jahren wollten die Ausstellungsmacher den Besuch "nur in Begleitung eines Erziehungsberechtigten oder autorisierten Lehrpersonals" zumuten, und die Erziehungsberechtigten ließen es sich nicht nehmen, ihren Nachwuchs in Scharen mitzubringen – die Leichenschau als Familienausflug, und auch die "multikulturelle Gesellschaft" erscheint in den Warteschlangen zumindest ansatzweise verwirklicht. Der Tod, wenn auch nur in Präparaten lebendig, scheint alle und alles gleichzuhobeln.

Die ethischen Bedenkenträger können freilich beruhigt sein: Die Ausstellung ist tatsächlich streng wissenschaftlich konzipiert, didaktisch geschickt und hat mit einem anatomischen Mißbildungspanoptikum kaum etwas gemein. Die Exponate sind ähnlich aufgearbeitet wie anatomische Wachsmodelle der Renaissance. Die "Ganzkörperplastinate" sind als chirurgische Lehrmodelle allesamt ohne Haut. In den Vitrinen sieht man nun keineswegs bloß Leichen. Ausgestellt ist etwa – so der Ausstellungskatalog – "ein lateral expandierter Körper; hier ist die Körperhülle in der Mitte längs durchtrennt und die Körperhüllenhälften mit den anhängenden Extremitäten zur Seite verschoben. Dadurch fällt der Blick auf die inneren Organe. Um einen besseren Blick auf die Organe zu ermöglichen, die nahe der rückwärtigen Bauchwand lokalisiert sind, trägt das Plastinat den Magen-Darm-Trakt in der linken und die Leber in der rechten Hand. Auf der Rückseite ist in der Mittellinie die Wirbelsäule mit dem darin verlaufenden Rückenmark und das Gehirn verblieben."

Ein anderes Plastinat ist in der Position eines Schachspielers dargestellt, ein Plastinat hält (nach einem historischen Vorbild) seine Haut in der Hand, an einem weiteren sind diverse orthopädische Eingriffe samt Instrumenten dargestellt. Gegen diese Art der Darstellung kann man Bedenken haben, gegen den Grundtenor der Ausstellung aber nicht.

In einer Gesellschaft, die den Tod verdrängt (der sich davon freilich unbeeindruckt zeigt), ist es gewiß angezeigt, die Pathologie, auf deren Ergebnisse niemand verzichten will, aus dem Schmuddelwinkel von Nichtbeachtung und nekrophilem Voyeurismus zu holen. Der Mannheimer Ausstellung gelingt das ganz ohne aufklärerisches Pathos. Junge Mediziner stehen an den Präparaten und informieren über simple Körperfunktionen. Die Körper, darauf wird wiederholt hingewiesen, stammen von Menschen, die ihn ausdrücklich der Wissenschaft zur Verfügung gestellt haben. In manchen Fällen, etwa bei den plastinierten Körperscheiben, die verblüffende Einblicke in den menschlichen Körper gestatten, verläuft die Grenze zur zweidimensionalen Fotografie fließend. Man kann darüber streiten, inwieweit der Werbeaufwand für diese Ausstellung, die zuvor in Japan Millionen von Besuchern begeistert haben soll, sich mit hehren wissenschaftlichen Zielen verträgt. Wer allerdings eine Art Gruselkabinett sucht, ist hier an der falschen Adresse. Der Schauer des Todes ist bei den fast schon modellhaft wirkenden Plastinaten längst verflogen, die wenigen Mißbildungen, etwa Fehlgeburten, die gezeigt werden, scheinen von den Besuchern nicht besonders beachtet zu werden.

Lediglich an einer sogenannten "Raucherlunge" häufen sich oberlehrerhafte Besucher, die mit triumphierendem Fingerzeig nahezu scherzhaft auf den Beweis der Schädlichkeit des Rauchens verweisen. Der ansonsten anstandslos befolgten Bitte der Ausstellungsleitung, "sich dem besonderen Thema angemessen zu verhalten", entspricht dies sicher nicht. Bei den zirrhotischen Lebern ist der Andrang übrigens geringer. Entnervt greifen die Besucher, von der Ausstellung deutlich gezeichnet, nach dem Verlassen des Museums zur nächsten Zigarette.

Landesmuseum für Technik und Arbeit, Mannheim, Museuemsstraße 1. Die Ausstellung ist bis zum 1. Februar 1998 geöffnet. Der Katalog kostet 38 Mark.


 
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