© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   51/97  12. Dezember 1997

 
 
Streikreport `97: Von kleinen Minderheiten und untätigen Mehrheiten
"Bildung für alle!"
von Gerlinde Redwitz/Manuel Ochsenreiter

"…und für Bildung für alle und gegen die allgegenwärtige Intoleranz!" Leicht übersteuert kommen aus irgendeiner Ecke des Demonstrationszuges die Forderungen. Mit Megaphonen, Trillerpfeifen und Trommeln werden wir immer mehr eingepeitscht, immer weiter "auf Linie" gebracht.

Heute ist der 4. Dezember, in ganz Deutschland ist Großkampftag an den Universitäten. Über 130.000 Studenten befinden sich auf den Straßen und demonstrieren mit Plakaten und Transparenten gegen die gegenwärtige Rotstiftpolitik bei der Bildung. 30.000 Demonstranten allein in Berlin, dort ist die größte Demo seit Beginn der Proteste.

Mitten unter diesen 30.000 befindet sich auch das JF-Team, ebenfalls Studenten an Berlins Universitäten. Auf dem Weg vom Brandenburger Tor zum Roten Rathaus bleibt viel Zeit für Glühwein (selbst mitgebracht) und Gespräche mit Kommilitonen. Die Motivation, sich bei "gefühlten minus sieben Grad" (Wetter bei Sat1) auf die Straße zu begeben und eine vorweihnachtliche Grippe zu riskieren interessiert uns.

Den meisten geht es dabei wie uns. "Ich studiere Betriebswirtschaft im ersten Semester an der Humboldt-Uni", erzählt uns Mark aus Bonn. Denn bei seiner Fakultät sollen "Lehrstühle gestrichen, sowie die Bibliothek nicht aufgefrischt" werden. Mark hat Wut im Bauch. Denn auf der einen Seite würde von ihm erwartet "in kürzester Zeit fertig zu werden", andererseits fühlt er sich von der Politik "von vorne bis hinten verarscht".

Auch andere schimpfen, wie Ina, die Pharmazie studiert. "Da hab ich bald Tagesreisen um die Gebäude zu erreichen, und die wollen noch mehr wegkürzen."

Hinter uns schiebt sich ein grimmig dreinblickender Typ mit einem Plakat in der Hand vor. "Linksruck! Millionäre besteuern!" ist darauf zu lesen. "Hallo!" begrüßen wir ihn freundlich. "Platz da!" die nicht ganz so freundliche Antwort. Dennoch nehmen wir die Verfolgung auf.

Maik ist, wie sich später im Verlauf des Gesprächs herausstellt, gar kein Student. "Demos sind geil!" seine erfrischende Antwort, was er denn dann hier überhaupt mache. Maik ist gegen Millionäre, Eurofighter, Frauendiskriminierung, Häuserräumungen und den "alltäglichen Faschismus". Deshalb demonstriert er jetzt für eine bessere Bildungspolitik. Wir lassen Maik Maik sein und marschieren weiter.

Denn vor uns diskutiert Petra, 29jährige Psychologiestudentin, und wedelt bedrohlich mit den Armen. Schon von weitem vernehmen wir Wortfetzen wie "Kapitalistenschweine" und "Herrschende Klasse". Eine etwas gedrungene Kommilitonin folgt ängstlich den wilden Bahnen von Petras drohendem Zeigefinger. Auch wir schalten uns in die Diskussion ein. Dort erfahren wir, warum Petra demonstriert, die die "Revolutionäre Linke" unterstützt, wie sie sagt. "Hebelwirkung für ein neues 68" soll es werden. Wir haben Verständnis, denn vor allem die rotgeschmückten Demonstranten machen altersmäßig den Eindruck, bereits 1968 studiert zu haben, und gegen ein bißchen Nostalgie ist ja nichts einzuwenden.

Dennoch macht Roland, Student an der Technischen Universität etwas andere Verbesserungsvorschläge: "Härtere Regelstudienzeiten ran, dann hauen erst mal die ganzen Studentenrentner ab, und schon ist der Hörsaal um die Hälfte leerer!" Studentenrentner! Petras düstere Langzeitstudentenmine verfinstert sich noch mehr. Wir verlassen Petra und Roland, bei deren Konversation der komplizierte Teil wohl erst danach begann.

"Mit denen hab’ ich nix am Hut", "Laß mich mit dem roten Scheiß in Ruhe" oder einfach "Blöde Forderungen" ist bei vielen Studenten zu hören, spricht man sie auf die allgemeinpolitischen Forderungen der offiziellen Studentenvertreter an. Warum sie nichts gegen die Verwässerung ihrer Interessen unternehmen? Achselzucken, Blicke auf den Boden "Bringt ja doch nix", "Die machen wenigstens noch was…".

Gegen die Beschränkung ihrer Redezeiten und unfaire Methoden der "Revolutionäre" auf den inszenierten Vollversammlungen unternehmen sie nichts, weil es ja "doch nix bringt". Und so latschen sie weiter unter dem Transparent "Bildung für alle", und eigentlich wollen sie doch nur eine modernere Bibliothek und einen gut bezahlten Arbeitsplatz nach dem Studium. Interessen, die 35jährige, hauptberuflich als "Revoluzzer" tätige "Studenten" selbstverständlich nicht haben.

Auf der anderen Seite glänzt der Studentenprotest ’97 in Berlin aber auch durch Witz und Einfallsreichtum.

So fand nach der Bundestagsdebatte, bei der sich alle, inklusive Helmut Kohl, mit den Studenten solidarisierten eine Dankesdemonstration für Helmut Kohl statt. Mit bissigem Sarkasmus und witzigen Transparenten wurde die etablierte Anbiederei der Regierung vorgeführt.

Wie lange noch gestreikt wird, weiß keiner. Klar ist, je länger er dauert, desto mehr bröckelt die Streikmoral, denn ein Semester will keiner der Studenten opfern, außer diejenigen, bei denen es ohnehin egal ist, ob sie jetzt 15 oder 16 Semester studieren.

Wenn es um die Durchsetzung der Streikmoral geht, treiben die Ideen der Studentenvertreter seltsame Blüten, die an längst vergangene Zeiten erinnern. So braucht man "Passierscheine", wenn man in die Bibliothek möchte und die Eingänge sind mit "Wachen" bestückt. Kleine Hilfspolizisten der Revolution…

Drückt sich so das Vertrauen in die "studentische Solidarität aus"? Die Durchsetzung ideologischer Forderungen aus der 68er-Mottenkiste erfordert offensichtlich solche Maßnahmen gegen potentielle "Streikbrecher".

Eines ist jedenfalls klar. Die Studenten verfolgen solche Entwicklungen aufmerksamer als früher. Denn selbst dem naivsten Studenten kann nicht entgehen, daß er für bessere Studienbedingungen aus der Haustür geht und plötzlich für völlig sachfremde Dinge auf der Straße marschiert.


 
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