© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/97 u. 01/98  19. Dezember / 26. Dezember 1997

 
 
Zehn Jahre Ostsee-Kooperation: Schlüsselrolle der Regionen St. Petersburg und Königsberg
Erfolgsgeschichte im hansischen Geist
von Horst Schinzel

Als vor nunmehr einem Jahrzehnt die schleswig-holsteinische Landesregierung die institutionalisierte Kooperation der Ostsee-Anrainer in Gang brachte, hatte so mancher für die Initiative nur ein müdes Lächeln übrig. Allzu heterogen erschienen die in diesem Rahmen vereinten mittel-, nord- und osteuropäischen Staaten.

Inzwischen sind die Skeptiker kleinlaut geworden. Das geographische Bindeglied Ostsee und das gemeinsame historische Band der Hansezeit haben sich als erstaunlich tragfähige Basis für eine rasche Intensivierung der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit erwiesen. Mit Einschränkungen bietet die Ostsee-Kooperation aus deutscher Sicht sogar die Möglichkeit, auf unterer und mittlerer politischer Ebene ein Gegengewicht zu der von Frankreich und Italien forcierten Zusammenarbeit im Mittelmeerraum zu bilden – zumindest wenn es gelingt, über die Regionen St. Petersburg und Königsberg auch Rußland fester einzubinden.

Die Wirtschaft dieses europäischen Großraumes mit über 50 Millionen Menschen weiß um das beträchtliche Marktpotential, das sich gerade rund um die Ostsee eröffnet und dessen Bedeutung sich mit dem baldigen EU-Beitritt Polens und Estlands noch einmal deutlich erhöhen wird. Ökonomen rechnen bis 2010 mit einer Steigerung des Handelsvolumens um bis zu 300%.

Die Zusammenarbeit der Ostsee-Anrainer hat gegenüber jener im Rahmen der EU den Vorteil, daß sie von unten gewachsen und besser überschaubar ist und außerdem geprägt wird von zahlreichen praktischen Projekten und regionalen Netzwerken, als deren Träger Gebietskörperschaften und Nicht-Regierungs-Organisationen fungieren. Heute bestehen über 70 supranationale Organisationen, Gremien und Initiativen mit einem weit gefaßten Spektrum.

Auf staatlicher Ebene gibt es den Ostseerat der Außenminister, die regelmäßigen Treffen der Fachminister, die Ostsee-Parlamentarierkonferenz und die Konferenz der Subregionen. Anfang Mai 1996 fand in Visby auf der schwedischen Insel Gotland ein "Ostseegipfel" der Regierungschefs aller Ostseeanrainerstaaten statt. Ein Folgetreffen ist für Januar 1998 in Kopenhagen geplant. In Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und beim Jugendaustausch wird die Zusammenarbeit von nicht-staatlichen Vereinigungen getragen. Zu erwähnen sind insbesondere der Zusammenschluß der Handelskammern (BCCA), Ars Baltica, die Vereinigung der Städte (UBC), Social Hansa sowie das Ostsee-Jugendbüro mit Sitz in Kopenhagen.

Eine entscheidende Basis der Kooperation im Ostseeraum sind die Subregionen: die Amtskommuner in Dänemark, Läns in Schweden, Fylkeskommuner in Norwegen, die Provinzen in Finnland, Oblasti in Rußland, Regionen und Stadtbezirke in Estland, die Distrikte in Lettland sowie Landbezirke in Litauen, während in der Bundesrepublik Deutschland die Länder als Subregionen auftreten. Nach einem ersten Treffen 1993 hat sich seit dem Jahr 1994 in Lübeck-Travemünde die "Ständige Konferenz der Subregionen des Ostseeraumes" etabliert. Diese Konferenz will durch eine verstärkte Bürgerbeteiligung zu einer möglichst stabilen politischen Entwicklung in allen beteiligten Ländern beitragen. Schon jetzt gibt es Austausch- und Schulungsprogramme für Verwaltungsmitarbeiter, ein Ostsee-Jugendprogramm sowie ein Austausch- und Bildungsprogramm für Journalisten aus den östlichen Anrainerstaaten. Bis dato wurden über tausend Kooperationsvorhaben vereinbart. Sprecher all dieser Subregionen war zwischen 1994 und Herbst 1997 der schleswig-holsteinische Minister für Justiz-, Bundes- und Europaangelegenheiten, Gerd Walter, der dieses Amt an den Bornholmer Amtsborgemester Andersen übergeben hat. Die nächste Tagung der Subregionen findet im Oktober 1998 im dänischen Roskilde statt.

Inzwischen haben sich die Ostsee-Anrainer bei der EU mit der Forderung nach einer eigenen Ostsee-Politik durchgesetzt. Im April letzten Jahres hat die Europäische Kommission das Grundsatzdokument "Baltic Sea Region Ini-tiative" vorgelegt, das die weit über die Region hinausreichende Bedeutung interregionaler Zusammenarbeit im Ostseeraum für die politische Stabilität in Europa unterstreicht. Zur Koordination hat die Kommission einen besonderen Lenkungsausschuß eingerichtet. Im Rahmen spezieller Programme wie "Interreg II C" oder "Baltic Small Projects Facility" werden bis zum Jahrtausendende weit über 100 Millionen Mark bereitgestellt. Die praktische Abwicklung ist zu einem beträchtlichen Teil der Investitionsbank Schleswig-Holstein übertragen worden, die sich dafür einer Geschäftsstelle in Rostock bedient.

Schleswig-Holstein ist seit 1991 mit zahlreichen Regionen des Ostseeraumes partnerschaftlich verbunden: SydSam in Schweden, Oslo und Åkershus in Norwegen, der finnischen Stadt Vaasa und den dänischen Ämtern Sønderjylland (Nordschleswig), Storströms (Lolland und Falster) und Fyn (Fünen), der Wojewodschaft Danzig, dem Oblast Kaliningrad (Königsberg) sowie nicht zuletzt mit Estland als Ganzem. Gemeinsam mit der Hansestadt Hamburg unterhält das nördlichste Bundesland in Brüssel ein "Hanse-Büro".

Im Rahmen der genannten Partnerschaften laufen rund 60 Kooperationsprojekte, wobei das Königsberger Gebiet einen besonders hohen Stellenwert genießt. Letzteres ist politisch wichtig, da Rußland eindeutig das "Sorgenkind" der Ostsee-Kooperation darstellt. Denn auch im Gebiet St. Petersburg oder in Königsberg fühlen sich maßgebliche Politiker und eine große Zahl von Bürgern angesichts der Entwicklungen seit 1989 auf territorialer wie psychologischer Ebene "an den Rand gedrängt". Daß die Unabhängigkeit des Baltikums und damit die weitgehende Beschränkung auf das eigentliche Rußland eine auch aus nationaler russischer Sicht zu begrüßende Korrektur historischen – großrussischen und kommunistischen – Unrechts darstellt, ist für viele sozial und psychologisch gebeutelte Russen noch immer schwer nachvollziehbar.

Immerhin hat zuletzt der Besuch Jelzins in Schweden vom 2. bis 5. Dezember einige für den Ostseeraum hoffnungsvoll stimmende Ergebnisse gezeigt. Vor allem will Moskau seine Truppen im Nordwesten der Föderation, das heißt konkret im Militärbezirk St. Petersburg sowie im Königsberger Gebiet, in absehbarer Zeit um 40% abbauen. Gesprochen wurde außerdem über das Anliegen Stockholms, einen Energieverbund der Ostseeanrainer zu schaffen, um als riskant eingestufte Atomkraftwerke wie das im litauischen Ignalina oder bei St. Petersburg schnellstmöglich vom Netz nehmen zu können. Diesem Ziel hat sich auch die unter Federführung der schwedischen Energiegesellschaft "Våttenfall" 1996 gebildete baltisch-nordische Vereinigung "Baltic Ring Study Group" verschrieben, an der neben dem Baltikum auch Polen und Deutschland mitwirken.

Politisch heikel ist allerdings das (verständliche) Bestreben der Regierungen in Reval, Riga und Wilna, einen Ostseestromverbund so auszugestalten, daß die eigene, nach wie vor große Abhängigkeit von russischen Energielieferungen möglichst weit verringert wird, was der russischen Wirtschaft und Politik natürlich gar nicht gefällt. Aber auch hier gibt es Anzeichen einer Entkrampfung. So konnte auf dem zweiten Treffen der Arbeitsgruppe für die Fragen der Zusammenarbeit zwischen Litauen und dem Königsberger Gebiet Mitte November eine Vereinbarung erzielt werden, wonach als Gegenleistung für Erdgaslieferungen aus Innerrußland nach Litauen 30 bis 40 Prozent des Strombedarfs der Exklave durch litauische Stromerzeuger gedeckt werden sollen.


 
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