© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/97 u. 01/98  19. Dezember / 26. Dezember 1997

 
 
Zeitgeschichte und Antifaschismus
von Klaus Hornung

Vergleiche, Ähnlichkeiten, Wesens-Übereinstimmungen zwischen den beiden totalitären Systemen dieses Jahrhunderts sind kein Thema, das "rechtsintellektuelle" Historiker erfunden haben in der Absicht, den Nationalsozialismus "moralisch zu entsorgen". Sie sind schon seit den zwanziger Jahren aus der unmittelbaren Erfahrung und Reflexion der Ereignisse hervorgegangen. So machte beispielsweise kein Geringerer als der damalige Chefideologe der Russischen Kommunistischen Partei, Nikolai Bucharin, auf dem XII. Parteitag im April 1923 kein Hehl daraus, daß Mussolinis Faschisten "sich mehr als irgendeine andere Partei die Erfahrungen der russischen Revolution zunutze gemacht" hätten und "eine genaue Kopie der bolschewistischen Taktik" darstellten. Der italienische christlich-demokratische Politiker Don Sturzo verwies zur gleichen Zeit auf die erstaunliche Ähnlichkeit der beiden neuen Regime als Parteiregierungen mit Monopolmacht unter Ausschaltung der Opposition, die er unter dem Begriff des "Totalitarismus" zusammenfaßte. 1934 verwendete die englische Encyclopaedia of Social Sciences den Totalitarismusbegriff, um darunter die beiden Einpartei-Staaten der Sowjetunion und Italiens zu subsumieren. Auch wenn man den in der Geschichte problematischen Kausalitätsbegriff vermeidet, drängt sich die epochale Gemeinsamkeit der drei neuartigen Herrschaftsformen auf, die 1917 in Rußland, 1922 in Italien und 1933 in Deutschland "die Macht ergriffen". Der Oktober 1917 und der Bürgerkrieg wurden "zum Ausgangspunkt einer Kette von ‘Reaktionen’, aus denen sich als Antwort auf die kommunistische Bedrohung zunächst der Faschismus und später der Nationalsozialismus entwickelt haben; und beide Bewegungen sind nach dem revolutionären und diktatorischen Vorbild des Kommunismus aufgebaut" (François Furet).

Die seit den zwanziger Jahren vor Augen liegende Antithese Demokratie–Totalitarismus haben Stalin und die Komintern durch eine großangelegte semantische und propagandistische Offensive zu verschleiern verstanden. Die bolschewistische Faschismustheorie und die daran anknüpfende "antifaschistische" Strategie wurde für die Sowjetunion und noch über deren Ende hinaus zu einer wahren Erfolgsgeschichte. Die Generallinie der "antifaschistischen Volksfront gegen Faschismus und Krieg". Zwischen 1935 und 1938 sollte sodann eine "antifaschistische" Front zusammen mit den beiden Westmächten gegen Hitler zustande kommen. Hitlers "Faschismus" hinderte den sowjetischen Diktator indes nicht am Pakt mit ihm vom 23. August 1939, weil er von ihm die Auslösung des Krieges erwartete, durch die der revolutionäre Weltprozeß im sowjetischen Interesse wieder in Bewegung gebracht werden sollte.

Seine "einschüchternde Wirkung" (Furet) auf die öffentliche und auch wissenschaftliche Debatte im Westen gewann der "Antifaschismus" dann vor allem durch die "antifaschistische" Kriegskoalition gegen Hitler-Deutschland seit 1941 und ihren gemeinsamen Sieg. Nun mußte der Vergleich zwischen Stalins und Hitlers Herrschaft als wahre Blasphemie erscheinen. Der nachfolgende Kalte Krieg ließ diese Wirkung zwar zeitweilig schwächer werden. Unter dem unmittelbaren Eindruck der deutschen Teilung und des Vordringens der Sowjetunion bis vor die Tore Hamburgs, an Elbe und Thüringer Wald herrschte in der westdeutschen Bundesrepublik in der Adenauer-Zeit freilich die antikommunistische Grundstimmung vor. Doch mit dem Abklingen der Ost-West-Konfrontation seit dem Ende der 50er Jahre begannen die Debatten über den Sowjetkommunismus in Deutschland und den westeuropäischen Ländern verschiedene Wege einzuschlagen. Unter dem Eindruck der sowjetischen Interventionen in Ungarn (1956) und Prag (1968) und sodann der Schriften Alexander Solschenizyns, vor allem des "Archipel Gulag", löste sich in Frankreich die bisherige "antifaschistisch"-philokommunistische Hegemonie schrittweise auf. Die nouveaux philosophes wie Bernard-Henri Lévy entkleideten den Marxismus-Leninismus-Stalinismus seines humanistischen Anspruchs (La barbarie à visage humain, 1972) und entmythologisierten, wie André Glucksmann, die demokratische Fassade des kommunistischen Egalitarismus (Köchin und Menschenfresser, dt. 1976).

Die Bilanz dieser langjährigen Diskurse zog dann François Furet in seinem großen Panorama des Kommunismus im 20. Jahrhundert (Das Ende der Illusion, 1995, dt. 1996). Furet zerstörte die Mythologisierung der realen Geschichte des Jahrhunderts durch das antifaschistische Konstrukt, das vergessen machen sollte, daß der Kommunismus und die totalitären Bewegungen in Italien und Deutschland von allem Anfang an in einem komplexen Verhältnis zueinander standen, einander sowohl bedingten wie bekämpften, "geprägt von gemeinsamen Leidenschaften und unerbittlichem Haß, heimlicher Solidarität und öffentlichen Auseinandersetzungen". Zusammenfassend spricht er von der "uneingestandenen Wesensverwandtschaft" und "konfliktgeladenen Komplizenschaft" der beiden totalitären Ideologien und Systeme. Der große strategische Zusammenhang liegt vor aller Augen; er reichte vom gemeinsamen Kampf gegen die Weimarer Republik bis zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, durch den Stalin seinen Partner und Kontrahenten als Türöffner zu dem von ihm erstrebten "zweiten imperialistischen Krieg" instrumentalisierte.

Während in Frankreich diese Sicht der Dinge im intellektuellen Diskurs heute kaum noch bestritten wird (lediglich die Politiker der Linksunion leugnen sie noch, gleichermaßen aus historischer Halbbildung wie aus Machtinstinkt), ist in Deutschland die Entwicklung seit dem Ende der 50er Jahre vielfach anders verlaufen. Die "einschüchternde Wirkung" des Antifaschismus gewann hier wieder an Kraft, seitdem der Bau der innerdeutschen Sperranlagen 1961 die dauerhafte deutsche Teilung und die fortschreitende Stärkung der sowjetischen Hegemonie in Europa als den "Willen der Geschichte" zu erweisen schienen. Mit den Provokationen des tschechischen Geheimdienstes im Auftrag des KGB gegen jüdische Friedhöfe in Westdeutschland zu Weihnachten 1959 begann ein neuer Schub deutscher "Vergangenheitsbewältigung" mit dem Ziel, den bisherigen antitotalitären und antikommunistischen Konsens in Westdeutschland durch eine "wahrhaft demokratische", antifaschistische Ordnung zu ersetzen. Nicht zuletzt stand das Totalitarismus-Paradigma der "neuen Ostpolitik" ab 1970 hinderlich im Weg, deren Strategie des "Wandels durch Annäherung" (entgegen heutigen Beteuerungen) ja nicht die Überwindung der deutschen Teilung, sondern die Hinnahme und Festigung der deutschen Zweistaatlichkeit auf "antifaschistischer" Basis zum Ziel hatte.

In diesem (west-)deutschen kulturellen und intellektuellen Klima mußte das 1987 erscheinende Buch Ernst Noltes "Der europäische Bürgerkrieg 1917–1945" wie ein Fremdkörper, ja eine Provokation wirken, obwohl es nichts anderes unternahm als die meisten ausländischen Zeithistoriker auch, nämlich die Ereignisse und "Fakten" miteinander in Beziehung und Vergleich zu setzen, da sie nur so verstanden und bewertet werden können. Anstelle eines vordergründig-moralistischen Schwarzweiß-Bildes der Zeitgeschichte ging es Nolte darum, den Nationalsozialismus "als keineswegs unvergleichbares und gleichwohl singuläres Phänomen in das Zeitalter eines ‘ideologischen Weltbürgerkrieges’ hineinzustellen" (Nolte, Streitpunkte). Es ging um ein in Deutschland immer deutlicher gewordenes Desiderat der zeitgeschichtlichen Forschung, das Nolte aufgriff, die Hitlerzeit und das Dritte Reich in die Totalität der Epoche einzuordnen, was auch die den Nachkommenden bereits weithin unbekannten engen Wechselwirkungen des sowjetischen und des nationalsozialistischen Regimes einschloß, also alle jene Teile der zeitgeschichtlichen Bühne, welche die antifaschistische Einschüchterung möglichst dauerhaft im Dunklen belassen wollte. Ende 1987 war deutlich, daß die von Ernst Nolte und einigen anderen eröffnete neue zeitgeschichtliche Debatte von den Gegnern rasch in einen politisch-ideologischen Machtkampf umgebogen wurde, der einen wissenschaftlichen "herrschaftsfreien Diskurs" mit dem Monopolgewicht politisch-ideologischer Tugendwächter abbrach. Während also die "Sieger" im sogenannten Historikerstreit vor zehn Jahren mit ihren volkspädagogischen Bannsprüchen den wissenschaftlichen Diskurs der Zeitgeschichte in Deutschland mannigfach lähmten, ging im Ausland dieser Diskurs weiter. Das zeigt jetzt erneut das französische "Schwarzbuch des Kommunismus". Seine Autoren, die den Opferzahlen des Weltkommunismus in den nun geöffneten Archiven nachgingen, allesamt Ex-Kommunisten verschiedener Couleur, haben sich jedenfalls den Wirkungen der Stalinschen Strategie des "Haltet den Dieb" entzogen.

Sollte das nun endlich auch auf die deutsche Debatte durchschlagen? Ulrike Ackermann hat jüngst in der taz die deutsche Linke vor dem "Wiederholungszwang" gewarnt, die Lager der einen Seite durch die Heiligkeit der Sache zu verklären und die der anderen zur "Singularität" des "absolut Bösen" zu erklären. Vielmehr gehe es heute gerade in Deutschland, das beide totalitären Erfahrungen durchlaufen hat, darum, den Blick auf beide Totalitarismen zu öffnen und nicht weiterhin das Schweigen über die Verbrechen des Kommunismus zur Legitimation der heutigen negativen deutschen Identität zu benutzen, "eine Identität, die ihre eigene Brüchigkeit ahnt und deshalb diese umso vehementer verteidigt". Die Tage der "einschüchternden Wirkung" des Antifaschismus könnten auch in Deutschland gezählt sein, der – wie das "Wahrheitsministerium" in George Orwells "1984" – die tatsächliche Geschichte im Interesse seiner politischen Machtbehauptung lange Zeit so erfolgreich umzuschreiben verstand.


 
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