© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    02/00 07. Januar 2000


EU-Osterweiterung: Für Deutschland liegt die Aufnahme ehemaliger Ostblock-Staaten im nationalen Interesse
Der Weg zur Stabilität für Mitteleuropa
Alexander Schmidt

Die bereits unter der alten Bundesregierung betriebene Osterweiterung der Europäischen Union gewinnt an Form. Bei dem EU-Gipfel in Helsinki ging ein "klares Signal" an die Länder Lettland, Litauen, Bulgarien, die Slowakei und Rumänien, ebenso wie an Malta, bald in den Kreis der EU aufgenommen zu werden.

Die Frage ist weniger das wie und ob, sondern mehr der Zeitraum, in dem aus dem Club der "Reichen und Schönen aus dem Westen" wieder ein gemeinsames Europa wird. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber, der sich als genereller Befürworter der Einigung ausgibt, warnt vor einer überstürzten Aufnahme von Ländern, bei denen die Kriterien zum Beitritt noch nicht vollständig erfüllt seien. Gegenüber dem Focus sagte er, daß "Sorgfalt vor Geschwindigkeit" gehen müsse. Das zur Zeit von der Europäischen Kommission vorgelegte Tempo sei sehr riskant, weil eine zu schnelle Erweiterung die Integration Europas in Frage stelle und sich zu einer Zerreißprobe entwickeln könnte. Beitrittsfähig hält Stoiber weder Bulgarien, Rumänien noch andere Länder aus Ost- und Mitteleuropa, und das auf längere Zeit. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf habe in diesen Ländern oftmals nicht einmal die Hälfte des EU-Durchschnitts erreicht. "Eine Aufnahme solcher Staaten würde den Charakter der EU grundlegend verändern und hätte darüber hinaus Transferleistungen in astronomischer Höhe zur Folge", warnte Stoiber. Er benennt die Mittel, die derzeit für die Osterweiterung zur Verfügung stehen mit rund 140 Milliarden Mark. Nach seinen Rechnungen entständen aber allein bei einem Beitritt von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei Kosten von 100 Milliarden Mark pro Jahr.

Vor einer zu großen Verzögerung bei der festen Einbindung unserer Nachbarn in die EU warnt der Europaabegeordnete und Präsident der Paneuropa-Union Deutschlands, Bernd Posselt (CSU) im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Zwar hält er es für "illusorisch", die ersten Länder vor 2005 aufzunehmen, aber aus sicherheitspolitischen Aspekten spricht sich Posselt für eine möglichst zügige wie ebenso gründliche Erweiterung aus. "Es geht bei der Erweiterung darum, unsere unmittelbare Nachbarschaft zu stabilisieren", so Posselt. "Wir müssen sehen, daß der Raum von Chaos und Willkür nicht wieder bis an den Böhmerwald, also Bayern, oder bis 50 Kilometer vor unsere Hauptstadt Berlin reicht. Der Mittelweg zwischen Ablehnung und Aufnahme als Vollmitglied besteht hier in Assoziierungsabkommen, die die MOE-Staaten an Europa heranführen sollen.

Daimler-Chrysler brennt auf neue Märkte im Osten

Deutschland und Österreich sind von den europäischen Staaten am engsten mit den mittel- und osteuropäischen Ländern (MOE) verflochten. Von einer zusätzlichen wirtschaftlichen Stabilisierung profitieren dann also beide, ebenso wie sie auch von einer Destabilisierung betroffen wären. Der Daimler-Chrysler Konzern brennt förmlich auf die Erschließung des neuen Marktes. Am 2. Juli 1999 schreibt Der Standard, daß der Chef der Konzerntochter debis, Klaus Mangold, bereits forderte, die Länder Polen, Ungarn, Tschechien, Estland und Slowenien bis spätestens 2003 in die EU aufzunehmen. Anders als den gemeinsamen Beitritt könne Mangold sich den Prozeß nicht vorstellen, weil so eine gegenseitige Dynamik entwickelt würde, die die fünf am schnellsten an das Gemeinschaftsniveau heranführen würde.

Stephan Baier, langjähriger Mitarbeiter des ehemaligen Europaabgeordneten Otto von Habsburg schreibt dazu in seinem Buch "Die Osterweiterung – Europas größte Herausforderung", daß nur durch einen Beitritt Tschechiens, Ungarns, Sloweniens und der Slowakei zur EU die Randlage Östereichs zu überwinden und die bislang unsicherste Außengrenze der Union dauerhaft zu sichern ist. "Mitteleuropa braucht heute mehr Stabilität, die nur durch die Verwirklichung paneuropäischer Modelle zu verwirklichen ist." Diese Worte waren prophetisch, angesichts der Aggression Rußlands im Tschetschenienkrieg und der zunehmenden Isolation vom Westen, die mit einer wachsenden Unsicherheit in dem einstigen Staatskomplex einhergeht.

Auch Posselt blickt eher skeptisch nach Rußland: "Putin ist ein Alarmzeichen, aber es gibt da noch wesentlich problematischere Kräfte in Rußland". Er rechnet damit, daß Rußland auf lange Sicht ein agressiver Faktor der Instabilität sein wird. Deshalb komme es jetzt darauf an, die MOE- Länder in die EU zu integrieren, um die noch jungen Rechtsstaaten zu festigen, damit sie nicht in alte Totalitarismen zurückfallen.

Den Vorwurf der Republikaner, daß eine Osterweiterung nur zu einem erhöhten Migrationsdruck auf Deutschland führe, weist er zurück. "Als Spanien und Portugal der EU beigetreten sind", erinnert er, "haben alle gesagt: wenn die Mitglied sind, dann kommen alle Spanier und Portugiesen zu uns". Die Zahl der in Deutschland lebenden Spanier sei aber zurückgegangen, weil sich der Lebensstandard in den Ländern so erhöht habe, daß die Menschen in ihrem eigenen Land gut leben könnten.

Demgegenüber weist der Berliner Wissenschaftler Michael Kreile darauf hin, daß eine starke Zuwanderung von Arbeitskräften zu erwarten ist. "Für die fünf Länder der Zentraleuropäischen Freihandelszone (CEFTA) wird das Migrationspotential auf jährlich 340.000 bis 680.000 Personen geschätzt, unter Einbeziehung der übrigen fünf assoziierten Staaten auf 590.000 bis knapp 1,2 Millionen." Als Lösung empfiehlt er Einschränkungen in der Freizügigkeit für eine Übergangsperiode.

Ist die Erweiterung erst vollständig abgeschlossen und sind die neuen Länder integriert, wird ebenso ein Wandel im Verhältnis zur momentan noch sehr dominanten USA in Europa stattfinden. Die USA haben dann nur noch die Rolle als Partner in einem gleichberechtigten transatlantischen Bündnis. Gefährdet wird eine stabile und sinnvolle Osterweiterung jedoch durch eine Aufweichung der Kriterien für die Beitrittsländer. Jede Nation, die in die EU eingebunden werden will, muß eine "institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten" sichern, heißt es in den Punkten, die jedes Land der EU erfüllen muß. Außerdem gilt als Kriterium eine "funktionsfähige Marktwirtschaft", sowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten. Weiter gilt als drittes Kriterium, daß "die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einer Mitgliedschaft erwachsenen Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen machen können". Hier tun sich bereits erste Differezen auf, die im Zuge der Erweiterung zum Streit führen können. Zum einen steht hier die Frage der noch nicht widerrufenen Benesch-Dekrete, die nach Posselts Rechtsempfinden "ganz klar beseitigt werden müssen".

Größere Eigenständigkeit für nationale Minderheiten

Gerade für nationale Minderheiten, die in den Grenzregionen der Nationalstaaten leben, bietet ein mit der Erweiterung einhergehender Regionalismus größere Eigenständigkeit. In der Slowakei bestehen 18 bis 23 Prozent der Bevölkerung aus solchen Minderheiten.

Neben dem Interreg-II Programm gibt es aus Brüssel auch Gelder, die zum Schutz der Kulturen von Minderheiten bereitgehalten werden. Allerdings bestehen in den Beitrittsländern unterschiedliche Auffassungen darüber, wie man mit der marktwirtschaftlichen Angleichung umgeht. Hoffnungen eines Vaclav Klaus, für seine Tschechische Republik Rabatte zu erhalten, weist Posselt zurück. Das schädige nur die Akzeptanz der so wichtigen Erweiterung innerhalb der Bevölkerung. So fern die Vorstellung momentan noch ist, daß wir mit Polen demnächst einen nicht unbedeutenden Partner an unserer Seite haben werden, es muß wieder hinsichtlich der zukünftigen Rolle Rußlands daran gedacht werden. Deshalb muß hier eine möglichst enge Bindung an das bisher bestehende Gefüge "Europa" zu erreicht werden. So wird Berlin erstmals in der Geschichte Polens näher sein als Moskau. Die Bedeutung dieser Entwicklung zeigt sich allein darin, daß Rußland die Einbindung Polens als Bedrohung empfindet. Eine Erweiterung der euro-atlantischen Allianz ist nicht im Sinne Rußlands. "Viele russische Funktionsträger würden in einer Nato-Osterweiterung die Revision der Nachkriegsordnung in Europa sehen, durch die Rußland nachträglich zum Verlierer des Zweiten Weltkrieges werde", heißt es in Paneuropa Deutschland, dem Organ der proeuropäischen Bewegung. Nach Schätzungen des Polen-Experten vom Deutschen Industrie- und Handelstag, Thorsten Klette, kann Polen bereits 2005 das wirtschaftliche Niveau der alten Länder der Bundesrepublik erreicht haben. Schon jetzt gehört Polen zu den Gewinnern des Systemzusamenbruchs im Osten.

Radikale Privatisierungen führten dazu, daß Polen schon 1996 das Produktionsniveau von 1989 wieder erreicht hatte, lange vor den neuen Bundesländen. Die Neue Zürcher Zeitung urteilte vor einem Jahr: "Das Land Polen ist nicht nur das größte und am schnellsten wachsende Land unter den ostmitteleuropäischen Staaten, sondern auch eines der wenigen, welches bisher keinen makroökonomischen Rückschlag erlitten hat."

Erste Europa-Abkommen mit Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei wurden bereits im Dezember 1991 abgeschlossen, 1993 folgten weitere Abkommen mit Rumänien, Bulgarien und, begründet durch den Zerfall der Tschechoslowakei, auch mit Tschechien und der Slowakei. Seitdem Handelströme auch nach Mittel- und Osteuropa gelangen können, wickelt Deutschland die Hälfte des EU-Handels mit Mittel- und Osteuropa ab. Nach Modellrechnungen des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW) besteht "erhebliches Potential für eine weitere Steigerung des Handels mit Mittel- und Osteuropa, wenn der Transformationsprozeß in den MOE-Ländern weiter voranschreitet und sich in Wachstumserfolgen niederschlägt. Eine weitere Verflechtung im Rahmen der Erweiterung kann dazu führen, daß die Positionen europäischer Konzerne im globalen Markt gestärkt werden. Durch die Konzentration der MOE-Staaten auf Wirtschaftssektoren wie Textilien, Bekleidung, Schuhe und Metallverarbeitung stellen diese Länder mehr eine Ergänzung der westeuropäischen Wirtschaft dar als eine Konkurrenz, weil im bisherigen Europa mehr und mehr die Hochtechnologie und Dienstleistung das Bild der Wirtschaft prägt. Gefährdet bleibt nur die ohnehin schon in Europa dahinsiechende Landwirtschaft, die durch ihre Konkurrenz aus dem Osten unter größeren Druck gerät.

Zu Beginn steht jedoch der Wiederaufbau, der im Maximalfall nach Berechnungen des Europäischen Rechnungshofes mit zehn Milliarden Mark für die EU zu Buche schlägt. Dieser Betrag könne ohne weitere Kosten für die Union durch Umschichtungen aufgebracht werden. Besonders die sogenannte Friedensdividende kann, so der Präsident des Rechnungshofes, dazu beitragen. Im Zuge des Reformprozesses im Osten haben die europäischen Länder den Verteidigungshaushalt immer weiter heruntergefahren. Die Einsparungen hieraus sind so hoch, daß man die Kosten des Aufbaus doppelt bezahlen könnte.

Dieses Beispiel hat das Europäische Parlament bereits aufgenommen. Jan Stankovsky vom Österechischen Institut für Wirtschaftsforschung veranschlagt die Kosten der Osterweiterung auf 0,14 bis 0,2 Prozent des EU-Bruttoinlandsproduktes. Chancen bietet die Erweiterung nicht nur auf dem wirtschaftlichen Sektor. Dem westlichen konsumorienierten Materialismus können die durchgehend konservativ orientierten MOE-Länder fast schon verloren geglaubte Werte entgegensetzen, wenn sie sich an ihre Tradition, Geschichte und Kultur erinnern. Jerzey Buzek, der Ministerpräsidet Polens, sagte in einem Interview: "Es ist für uns sehr wichtig, auch in der EU die grundlegenden Werte unserer Identität zu bewahren, die für uns auf christlichen Traditionen baut."

Mit der Osterweiterung ist auch eine tiefgreifende Reform der aufgeblähten Brüsseler Bürokratie und ein Abspecken der Organisation verbunden, die von allen, die sich ein bürgernahes Europa wünschen, erwartet wird. Und diese Reform muß tatsächlich durchgeführt werden, weil ohne sie eine europäische Union nicht möglich ist. Behielte die Union Regionalfonds, Sozialfonds, Kohäsionsfonds sowie Agrarfonds in bestehender Form bei, ohne gleichenfalls die Zuteilungsregeln zu ändern, entstehen nach Berechnungen von Michael Dauderstädt, der für die SPD-nahe Friedrich-Ebert Stiftung arbeitet, zwischen 58,1 Milliarden Euro für die Länder der ersten Erweiterungsstufe. Außerdem hätte das EU-Parlament etwa 200 Mitglieder mehr, im Rat gäbe es 47 zusätzliche Stimmen und die Kommission würde um mindestens 10 Mitglieder wachsen.

Deutscher Föderalismus ist beispielhaft für Europa

Welche Auswirkung das bisher noch bestehende Veto-Recht der einzelnen Länder hat, ist offenbar. Bisher konnten vielfach nur verwässerte Entscheidungen getroffen werden, weil am Widerstand eines Landes sonst ein ganzes Projekt hätte scheitern müssen, wie die Erfahrung mit England in der Vergangenheit schon oftmals zeigte.

Wenn das Europa des 21. Jahrhunderts am Beispiel des bundesdeutschen Föderalismus ausgerichtet ist, wie Michael Baier empfiehlt, stehen unsere Chancen nicht schlecht, einen festen Platz zwischen Amerika und der künftigen Wirtschaftsmacht Asien einzunehmen, ohne durch die Globalisierung von einem der beiden zerdrückt zu werden.


 
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