© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/00 14. Januar 2000

 
Jüdische Gemeinde: Nach der Wahl von Paul Spiegel
Den Zwang beenden
Peter Sichrovsky

Mit Paul Spiegel wurde ein identitätsloser Kompromiß als neuer Vorsitzender der Juden in Deutschland gewählt, Michel Friedman zu seinem Stellvertreter. Beide sind nicht im Entferntesten mit Ignatz Bubis vergleichbar, und wer die Meinung des ehemaligen Vorsitzenden über Friedman kannte, der muß schon den Mut des Zentralrats bewundern, diesen eitlen Fatzke als stellvertretenden Vorsitzenden zu etablieren.

Tagelang wurde in den deutschen Medien über die Wahl des neuen Vorsitzenden berichtet, als ginge es um den Leiter einer großen und mächtigen Organisation. Doch wie schon in der Vergangenheit repräsentiert der Vorsitzende der Juden in Deutschland nicht eine Winzig-Minorität von vielleicht 50 bis 70 000 Mitgliedern, sondern er stützt seine Autorität und gesellschaftliche Bedeutung auf den Holocaust. Dies gibt ihm die Berechtigung, jederzeit in den Medien aufzutreten, bei Staatsbesuchen in der Nähe der Macht zu sitzen und bei Begräbnissen von Opfern rassistischer Gewalttaten in der ersten Reihe zu stehen.

Damit muß endlich Schluß sein! Das ist in der Tat nicht seine Aufgabe! Die einzige Funktion, die der neue Vorsitzende der Juden in Deutschland hat, ist die Auflösung des Zentralrates. Vor 1933 gab es keinen Zentralrat derJuden in Deutschland, und auch heute existiert eine derartige Vereinigung nur in ganz wenigen Länder, wo Juden leben. Die Juden selbst lehnten sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik eine Dachorganisation für die verschiedenen Gemeinden ab. Sie argumentierten damals völlig zu Recht, daß eine jüdische Einheitsgemeinde (im Gegensatz zur Organisation anderer Religionsgemeinschaften) den Eindruck erwecken würde, daß die Juden in Deutschland sich nicht in das deutsche Volk integrieren wollten.

Die Nationalsozialisten zwangen die deutschen Juden in eine Dachorganisation, um sie besser kontrollieren zu können, wenn sie auch behaupteten, sie diene nur dem "Zweck, die Auswanderung der Juden zu fördern". Der nach dem Krieg gegründete Zentralrat ist somit eine Fortsetzung der Idee der Nationalsozialisten und dient nicht den Juden in Deutschland, sondern nur den Funktionären des Zentralrats und den deutschen Behörden. Er repräsentiert in keiner Weise die Vielfalt der jüdischen Religion und ist somit eine "antireligiöse Vereinigung", die das jüdische Leben nur noch behindert. Während in anderen europäischen Ländern in den Jahrzehnten nach dem Holocaust sich verschiedenste jüdische Gruppen etablierten, mit ihren eigenen Rabbinern, Gebetshäusern, Kulturzentren usw., versucht in Deutschland eine jüdische Zentralbehörde mit allen Mitteln der Macht, die jüdische Religion als politisches Parteiprogramm zu etablieren.

Dies muß ein Ende haben! Es dürfen sich nicht mehr "Berufsjuden" in Deutschland auf der Asche unserer ermordeten Angehörigen und Verwandten als Vorsitzende und Funktionäre einer Religionsgemeinschaft inszenieren, die selbst etwa so religiös sind wie die Mitglieder des ehemaligen Zentralkomitees der SED in der Ex-DDR.

Hier haben sich Männer und Frauen in den Vordergrund geschoben, die nichts mit Glauben, Religiosität und jüdischer Tradition zu tun haben und aus der Vertretungsberechtigung von religiösen Juden vor allem eine politische Verantwortung ableiten.

Die Normalisierung zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland wird erst möglich sein, wenn die selbsternannten jüdischen Bürokraten auf den gesellschaftlichen Status verzichten, den sie sich wegen der tragischen Geschichte unseres Volkes überstülpen. Die Täter und ihre Nachkommen boten den Opfern und deren Nachkommen zu große Stühle an, in denen die Zentralratsfunktionäre nun frech und selbstbewußt, aber dennoch verschwindend klein, sitzen und viel Lärm machen.

Es gibt wahrscheinlich derzeit in Deutschland mehr Hindus als Juden, vielleicht auch mehr Buddhisten oder Zeugen Jehovas. All diese Vertreter jener religiösen Minderheiten benehmen sich entsprechend ihrer Gemeindegröße und kümmern sich um das religiöse Leben ihrer Mitglieder.

Vielleicht wird der Holocaust erst überwunden sein und in den Geschichtsbüchern ruhen, wenn die Juden in Deutschland sich ihrer Religion wieder bewußt werden. Für jeden Juden ist dies eine private Entscheidung, wie er seine Religion ausübt. Ob liberal, konservativ oder orthodox, es gibt unter Juden ebenso viele Richtungen und Organisationen wie in jeder anderen Religion.

Jeder Jude muß die Möglichkeit haben, nach seinen religiösen Vorstellungen zu leben und zu beten. Das ist eines der grundlegenden Menschenrechte in einer Demokratie und auch im Vertrag von Amsterdam für ein vereintes Europa festgehalten. Der Zentralrat widerspricht der Idee der Religionsfreiheit. Er behindert einen Teil der Juden in Deutschland bei der Ausübung ihrer Religion.

 

Peter Sichrovsky, Schriftsteller und Mitglied des Europaparlamentes, ist Vorsitzender des 1999 in Berlin gegründeten orthodoxen "Bundes Gesetzestreuer Jüdischer Gemeinden in Deutschland" (BGJGD), der sich – ähnlich den freikirchlichen evangelischen Gemeinden bezogen auf die EKD – unabhängig vom Zentralverband organisiert.


 
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