© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/00 14. Januar 2000

 
Kino: "Stigmata" von Rupert Wainwright
Madonnas blutige Tränen
Claus-M. Wolfschlag

In der Kirche eines brasilianischen Dorfes beten die Gläubigen am Sarg ihres verstorbenen Priesters, während eine Madonnenstatue Tränen aus Blut weint. Der Vatikan beauftragt Pater Andrew Kiernan (Gabriel Byrne), das angebliche Wunder genauer zu untersuchen. Doch trotz wissenschaftlicher Vorgehensweise findet er keine hinreichende Erklärung für das Phänomen. Zur gleichen Zeit verkauft ein Junge auf dem Markt einer amerikanischen Touristin den gestohlenen Rosenkranz des verstorbenen Priesters.

Frankie Paige (Patricia Arquette), eine leichtlebige und vergnügungssüchtige Friseuse in Pittsburgh, erhält wenig später diesen Rosenkranz von ihrer Mutter als Geschenk zugeschickt. Schon bald darauf sieht sich die junge Frau zunehmend einer unbekannten, übernatürlichen Macht ausgesetzt. Sie erleidet sogenannte "Stigmatate", Wundmale an Händen und Füßen, schließlich auch blutige Abdrücke einer Dornenkrone am Kopf, die jenen des gekreuzigten Jesus Christus ähneln. Die Ärzte vermuten Suizidabsichten oder epileptische Anfälle, sind aber letztlich ratlos. Als Frankie während einer Fahrt mit der U-Bahn erneut von jener unsichtbaren Macht attackiert wird, ist zufällig ein Priester Zeuge des unheimlichen Geschehens.

Er informiert Rom, und Kardinal Houseman (Jonathan Pryce) schickt Pater Kiernan nach Pittsburgh, um die geheimnisvollen Vorfälle aufzuklären. Doch auch dieser steht zunächst vor einem Rätsel, denn anders als jene Menschen, die bisher Stigmata erfahren haben, ist Frankie nicht religiös, sie glaubt nicht einmal an Gott. Kurz darauf erleidet sie in seiner Gegenwart wieder einen Anfall, bemalt die Wände ihrer Wohnung mit nicht zu identifizierbaren Schriftzeichen und spricht zu ihm in fremden, altertümlichen Worten. Kiernan läßt die Schriftzüge von einem befreundeten Priester übersetzen, der sie als Teil jenes "Jesus-Evangeliums" identifiziert, daß Jesus seinen Jüngern in aramäischer Sprache hinterließ, und in dem die Existenzberechtigung einer Kirche in Frage gestellt wird. An dieser alternativen Glaubensvorschrift arbeitete auch der brasilianische Priester, dessen Geist Frankie offensichtlich als Botin benutzt. Die Vorgänge lösen in hohen Kreisen des Vatikans Irritationen aus. Kardinal Houseman ist entschlossen, nicht an den Grundfesten der Kirche rütteln zu lassen und versucht, Frankie einem Exorzismus zu unterziehen, der sie fast umbringt. In letzter Sekunde gelingt es Pater Kiernan, sie zu retten und das "Jesus-Evangelium" den Gläubigen zu offenbaren...

Ein dem Rationalen entzogener Mythos und handfeste Bedrohung - zwischen diesen beiden Polen entfaltet der Horrorfilm seit jeher seine Faszination. So auch in Rupert Wainwrights "Stigmata", in dem die offensichtliche Besessenheit einer jungen Frau zwischen Mystik und Religion, neurotischen Defekten und visionären Angstträumen angesiedelt wird.

Regisseur Rupert Wainwright hat sich mit dem wenig erforschten Thema der "Stigmata" reichlich viel, womöglich gar zuviel vorgenommen, denn je aufregender es auf der Leinwand zugehen soll, je deutlicher das schaurige Geheimnis zutage tritt, desto mehr verflacht die Geschichte. Die Möglichkeit, daß Frankie an extremen religiösen Wahnvorstellungen leidet, an Epilepsie, die häufig mit schwerer Hysterie einhergeht, oder daß ihre Imaginationen als Alptraum im Drogenrausch mit allen physischen und psychischen Folgen der Selbstzerstörung zu dechiffrieren sind, läßt Wainwright zwar während ihres Krankenhausaufenthaltes beiläufig andeuten, aber dann sehr schnell wieder fallen.

Wainwrights Ziel ist es, mit dem Übersinnlichen zu jonglieren, wie weiland Roman Polanski in "Rosemaries Baby" oder William Friedkin in "Der Exorzist", dem unerreichten Vorbild und Zitierschatz von "Stigmata". aber leider bleibt Wainwrights Film stecken zwischen oberflächlichen Informationsangeboten und halbherzigen Engagements, vermischt mit puren Fetzen von Hintergrundwissen. Denn wo Polanski oder Friedkin Phobien und Wahnvorstellungen als Panorama subjektiver Wahrnehmungswelten inszenierten, schlummernde Ängste schürten und freisetzten, offenbart "Stigmata" eher eine visionäre Verkündigung, der dann doch zuletzt jene unbedingt fesselnde Kraft fehlt.

Die Aussage des um ein sogenanntes "Jesus-Evangelium" kreisenden Filmes dürfte zu Kontroversen führen. Zwar gelingen "Stigmata" hinreißende Momente in der kleinen brasilianischen Kirche, wo klar wird, daß es bei Phänomenen wie den blutigen Tränen der Madonna nicht um gewichtige Glaubensfragen, sondern um Mystik geht. Aber genau von dieser sublimen Seelendramaturgie der katholischen Mystik versteht Wainwright so gut wie nichts. Und so erfanden die Drehbuchautoren jenes ominöse "Jesus-Evangelium", das den Menschen den direkten Zugang zum Heil verspricht – natürlich ohne die hierarchisch-orthodoxe Institution Kirche – und damit der Selbstbedienungsmentalität der heutigen Generation entgegenkommen dürfte.


 
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