© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/00 21. Januar 2000

 
Bruder Johannes schweigt
von Michael Oelmann

Die Republik ist in einer Krise, das zeigt jeder neue Tag mit Skandalen und Enthüllungen. Längst hat nicht nur der "Mann auf der Straße", sondern auch Politiker und Medienmenschen den Überblick verloren. Sind die Affärene nur persönliche Verfehlungen? Sind sie eine nachhaltige moralische Bankrotterklärung des Parteienstaats? Amts- und funktionswegen ist zu dieser Stunde der Mann gefordert, den die verfassungsmäßige Ausgestaltung seines Amtes geradezu zur Rede verpflichtet: Der Bundespräsident. Doch wo ist Rau?

Das Schweigen des Bundespräsidenten in der Stunde der Krise hat nicht etwa nur mit einem geflissentlichen Abwarten zu tun, mit einem würdevollen "Heraushalten aus der Tagespolitik". Rau schweigt, weil er selbst im Rahmen der "Flugaffäre" im Fadenkreuz der Verdächtigungen und Vermutungen steht. In fast 40 Fällen soll er als Ministerpräsident auf Kosten der Westdeutschen Landesbank mit einem Privatcharter geflogen sein. Genaueres, soll nächste Woche von seinen Anwälten erklärt werden.

Derweil bemüht sich sein Nachfolger Clement, seinen Ziehvater aus der Schußlinie zu holen. Raus Flüge seien "absolut einwandfrei und rechtlich unangreifbar". Das freilich ist eine sehr wohlmeinende Analyse der Umstände, deren Prüfung Juristen und Untersuchungsausschüssen obliegen wird. Fest steht, moralisch und atmosphärisch sind die gemauschelten Trips im SPD-Strippen-und-Seilschaftsverein NRW schon jetzt Gift für das Amt des Bundespräsidenten. Rau ist de facto angeschlagen und kann seine Pflichten in der Zeit der Krise nicht wahrnehmen.

Auf unerwartete Weise hat sich der fade Beigeschmack der Wahl Raus zum Bundespräsidenten bestätigt. Rau, dessen jahrelange Andienung fast peinliche Züge annahm, wurde allzu offensichtlich genau in der Manier auf seinen Posten gehoben, die die Seilschaften in NRW jetzt zum Gegenstand eines Skandals gemacht haben: Posten hier, Gefallen dort. Rau ist, wie wenige seiner Vorgänger, mehr Präsident des Systems als des Volkes.

Dabei hätte die verfassungsmäßige Idee eines über den Parteien stehenden Präsidenten in diesen Tagen nie größere Bedeutung gehabt. Ein wirklich unabhängiger Präsident wäre vielleicht der einzige, der der gebeutelten Demokratie in Deutschland Halt geben könnte und als eine moralische Richtschnur für die verunsicherte Gesellschaft dienen könnte. Roman Herzog wäre ein solcher gewesen, wenngleich sich für Deutschland auf lange Sicht die Frage nach einer stärkeren präsidentialen Funktion – und sei es alleine durch die Einführung einer Direktwahl – stellen wird. Auch dies eine Lehre aus den Skandalen dieser Tage.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen