© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/00 21. Januar 2000

 
Mythen: Zur Funktion des Mythos in der Mediengesellschaft
Lebende Bilder als Ersatz
Baal Müller

Wenn ein Kinofilm gelegentlich als "Epos" oder gar als "Saga" bezeichnet wird, verweist ein solcher, etwas plumper Archaismus auf eine hehre Tradition: vage klingt etwas an von Illias und Odyssee, Nibelungenlied und Artus-Romanen, ein blasser Hauch von Bedeutung, Sinn, heroischem Schicksal und gemeinsamer, seit unvordenklichen Zeiten bestehender Tradition.

Obwohl dergleichen kaum noch vorhanden ist und natürlich nur zu Unterhaltungszwecken als vorübergehende Stimmung hervorgerufen wird, haben verschiedene Medientheoretiker auf die Verwandtschaft von Kino und Epos hingewiesen, ja zuweilen geradezu eine Repaganisierung in der modernen Medienkultur erkennen wollen.

Dies liegt kaum an einzelnen Stoffen, obwohl überlange Historienschinken oder quasimythische Fantasystreifen eine vordergründige Eignung in diesem Sinne besitzen. Wichtiger sind vielmehr formale Ähnlichkeiten zwischen antiken Epen und ihren, meist sehr viel einfacher strukturierten modernen Surrogaten: Beide besitzen, jedenfalls wenn man die bereits literarisch und nicht mehr nur oral tradierten Epen betrachtet, eine mehr oder weniger zielgerichtete Narration, sie sind oft in klare binäre Oppositionen gegliedert, sie handeln von Gruppen und Gemeinschaften, die nicht durch beliebige Entscheidungen, sondern von einem Schicksal zusammengehalten werden, das sie als Herkunft und Auftrag empfinden. Und sie stiften oder simulieren Sinn; sie sind eine Art von "Großen Erzählungen", um noch einmal Lyotards recht abgegriffene Formulierung zu verwenden.

Von ihren eher theoretischen und ideologischen Verwandten, den Erzählungen von Weltrevolutionen, universalen Menschenrechten usw., die auch am Ende des 20. Jahrhunderts keineswegs aufgehört haben zu existieren, unterscheiden sie sich vor allem durch ihre größere Bildhaftigkeit, durch Sinnlichkeit und "multimediale" Darstellung; das für die neuere abendländische Kultur so wichtige Prinzip der Schriftlichkeit tritt hingegen zurück.

Es ist vielleicht etwas zu schematisch, die Vorliebe für das Bild pauschal als mythisch und "heidnisch", die Bevorzugung der Schrift hingegen als "christlich" (eventuell auch in einer säkularisierten Schwundstufe) bezeichnen zu wollen, aber Aufbruchstimmungen verleiten dazu. Von einer solchen erfasst, hat Gilles Deleuze das Kino als "bergsonistisch" bezeichnet, weil in diesem wie bei dem französischen Lebensphilosophen Henri Bergson die Welt nur aus Bildern besteht, und vielleicht nicht zufällig warb man für die ersten Kinofilme – als gleichzeitig die Lebensphilosophie aufkam – mit dem Slogan der "Lebenden Bilder". Eine ähnliche Emphase spricht aus den Schriften zeitgenössischer Medienphilosophen, wenn sie das Ende der Gutenberggalaxis, eine neue Kultur der Visualität und Oralität prophezeien.

Wenngleich zu hoffen ist, daß sie etwas übertreiben und daß Schreiben und Denken nicht gänzlich dem Schauen und Erleben virtueller, gerade nicht lebender, sondern nur pseudo-lebendiger "Realitäten" geopfert werden, so wäre doch zu überlegen, ob man die neomythische mediale Innovation, wenn sie denn formal besteht, nicht auch für entsprechende, angemessene Inhalte fruchtbar machen kann.

Die Regie-Heroen des 20. Jahrhunderts, allen voran Leni Riefenstahl und Fritz Lang, haben unerreichte Vorgaben in diesem Sinne gemacht. Zu denken ist hier vor allem an Fritz Langs Stummfilm-Epos über die Nibelungen oder Leni Riefenstahls lebenslang verfolgtes Projekt einer Verfilmung der Illias. Gegenwärtig sind es Filme wie Luc Bressons "Johanna von Orléans", die, wenngleich natürlich nicht auf einem vergleichbaren Niveau, eine Neubearbeitung mythischer Stoffe darstellen.

Das Mythische muß nicht immer weit zurückliegen, auch in der jüngsten – und zumal in der jüngsten deutschen – Vergangenheit finden sich mythische Ereignisse.

Einerseits geht das Mythische nicht in bombastischen Inszenierungen auf, und nicht alles Unhinterfragte oder Unhinterfragbare ist per se mythisch; andererseits resultiert es auch nicht allein aus dem diffusen Dämmer des Halbvergessenen. Es findet sich weder da, wo man die Vernunft vorsätzlich benebelt, noch da, wo generell Unwissenheit herrscht, sondern dort, wo die Vernunft nach äußerster Anspannung ihrer Möglichkeiten an ihre Grenzen stößt. Nähe oder Ferne der Zeit berühren die mythische Qualität eines Ereignisses genauso wenig wie bloße Gegenwart schon seine rationale Erfassung gewährleistet, denn die Zeitgenossenschaft allein hat noch niemanden klüger gemacht.

Künftige Regisseure, Dichter, Künstler werden zu erproben haben, ob es auch in neuerer Zeit Themen gibt, die unter ihren Händen zu Mythen werden könnten, die zur Abwechslung auch positive (und trotzdem nicht triviale) Identifikationen ermöglichen.

Vielleicht werden sie eines Tages den zeitlich wie sachlich unangemessenen deutschen Sonderweg hinter sich lassen, der in der bekannten, immer gleichen Beschwörung ausschließlich negativer Ereignisse der eigenen Geschichte besteht. Allein auf einen negativen Gründungsmythos, der als solcher für unhintergehbar und unvergleichlich erklärt wird, kann eine Gemeinschaft nicht rekurieren, ohne sich beständig selbst in Frage zu stellen.

Wer die Aufgabe der Kunst freilich in solcher In-Frage-Stellung, in der Kritik als reinem Selbstzweck um der Kritik willen, bereits erschöpft sieht, muß sich nicht wundern, wenn das Publikum seiner arrogant-intelligenzlerischen Allüren und verspießerten Dauerprovokationen immer überdrüssiger wird. Jede Kritik wird schließlich irgendwann langweilig, wenn das Establishment mit seinen Kritikern letztlich identisch ist.


 
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