© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/00 21. Januar 2000

 
Literatur: Vor fünfzig Jahren starb der Schriftsteller George Orwell
Ein visionärer Misanthrop
Werner Olles

Mit seinen Dichterkollegen Jonathan Swift ("Gullivers Reisen") und Daniel Defoe ("Robinson Crusoe") teilte er die Verachtung der Menschen, und ebenso wie sie war er von der Sexualität in gleicher Weise abgestoßen und fasziniert. Er nahm zeitweilig ein Leben in Armut auf sich, um den Unterdrückten nahe zu sein, und hieraus resultierte auch seine Bekehrung zu einem gefühlsbetonten Sozialismus, denn mit den englischen Marxisten und ihren abstrakten Theoriegebäuden konnte er nur wenig anfangen.

George Orwell, der eigentlich Eric Arthur Blair hieß, wurde am 7. Mai 1903 in Motihari im indischen Bengalen an der Grenze zu Nepal geboren. Sein Vater war ein kleiner englischer Kolonialbeamter im Opium Department des Indian Civil Service, der das ständig kränkelnde Kind schließlich in Begleitung seiner Mutter an ein Knabeninternat nach England schickte. Während er in Indien in einem großen Haus, umgeben von dienstbaren Geistern, aufgewachsen war, mußte er sich nun an die strenge und unpersönliche britische Erziehungsweise gewöhnen.

Um sich abzulenken, entwickelte er einen außergewöhnlichen Lektürehunger und las sämtliche Bücher von Mark Twain, Charles Dickens und Rudyard Kipling. Als einer der besten Schüler seines Jahrgangs erhielt er ein Stipendium am Eton College. 1922 kehrte er jedoch nach Indien zurück, um als Offiziersanwärter in die britische Militärpolizei einzutreten. Er wurde in Burma und später auch in Rangun stationiert. Nach fünf Jahren Polizeidienst reichte er aber seine Entlassung ein und verließ die Truppe, weil ihn die Behandlung der Eingeborenen durch die Kolonialverwaltung schockierte, und er das – nach seiner Ansicht – imperialistische Regierungssystem Englands aus tiefstem Herzen ablehnte.

Wieder in Europa, lebte er zunächst in Paris und später in London. Er versuchte sich als Vagabund, Tellerwäscher und Lehrer an Privatschulen. Schließlich bezog er ein kärglich eingerichtetes Zimmer und begann, seine gewonnenen Erfahrungen niederzuschreiben. 1933 erschien sein erster Roman: "Down and out in Paris and London", ein Jahr später schilderte er in "Burmese Days" seine negativen Eindrücke der britischen Regierungsgewalt in Indien und Burma, die er in den posthum erschienenen Erzählungen "Shooting an Elephant" (1950) noch einmal präzisierte.

Der Roman "A Clergymans Daughter" (1935) beschreibt seine Tätigkeit als Privatlehrer und die sozialkritische Novelle "Keep the Aspidistra flying" (1936) seine Arbeit in einer kleinen Buchhandlung, wo er die Werte des Kleinbürgertums – Sparsamkeit, Ordnung und Privateigentum – entdeckte und schätzen lernte. In seiner Schilderung der englischen Industriestädte zur Zeit der großen Arbeitslosigkeit, "The Road to Wigan Pier" (1937), findet sich dann – wenngleich verschlüsselt – seine Bekehrung zum Sozialismus.

Als der spanische Bürgerkrieg ausbrach, meldete sich Orwell als Freiwilliger, um auf republikanischer Seite gegen die rebellierenden Truppen General Francos zu kämpfen. Er trat in die trotzkistisch orientierte POUM-Miliz ein und erlitt während eines blutigen Gefechts eine schwere Verwundung. Die bitteren Erfahrungen mit den Kommunisten stalinistischer Prägung, die unter den Republikanern fast stärker wüteten als die Francisten, bewogen ihn zu seinem Buch "Homage to Catalonia" (dt. "Mein Katalonien", 1938). Von Orwells scharfer Abrechnung mit dem Kommunismus wurden jedoch in England gerade einmal 700 Exemplare verkauft, weil die Linke seinen Warnungen gegenüber vollkommen taub war.

Orwell arbeitete jetzt wieder als Redakteur, zunächst für die einem demokratischen Sozialismus verpflichtete Tribune, später als Mitarbeiter der BBC und der Times. 1943 begann er an der satirischen Tierfabel über das stalinistische System "Animal Farm" (dt. "Farm der Tiere", 1946) zu schreiben. Wieder mußte er erleben, daß sich fünf Verleger weigerten, das Buch zu veröffentlichen. Zu stark erinnerte offenbar der Inhalt – der Aufstand der Tiere gegen ihren menschlichen Unterdrücker, einen Bauern, bringt schließlich die Schweine an die Macht, welche die Unterdrückung noch weiter forcieren – an die gescheiterten Illusionen der Linken gegenüber der kommunistischen Diktatur.

Als George Orwell Ende der vierziger Jahre ernsthaft erkrankte, zog er sich auf die schottische Insel Jura zurück. Hier schrieb er auf dem Krankenlager sein bekanntestes Werk: "1984". Die Erfahrungen, die er hierin schilderte, basierten auf seinen genauen Kenntnissen der diktatorischen Verhältnisse in der stalinistischen Sowjetunion. Auffällig waren die Parallelen mit den negativen Utopien des russischen Sozialisten Samjatin ("My", 1905), vor allem jedoch mit Huxleys "Brave New World".

Aber Orwells Zukunftsvision über die Unterdrückung und Manipulation der Massen in einem totalitären Staat durch eine intellektuelle Elite mit dem "Großen Bruder" an der Spitze ging noch weit darüber hinaus. "An modernen Maßstäben gemessen, war sogar die katholische Kirche des Mittelalters tolerant. Das lag zum Teil daran, daß in der Vergangenheit keine Regierung die Möglichkeit hatte, ihre Bürger ständig zu überwachen", schrieb er in "1984". In seiner Phantasie stellte er sich vor, daß die ständige Überwachung der Bürger durch ein dichtes Netz von Teleschirmen geschehen werde, die sowohl Bildschirm als auch Kamera sind.

Orwell ahnte damals noch nicht, welche neuen Möglichkeiten die technische Entwicklung in den nächsten fünf Jahrzehnten auf die Erde bringen würde, sonst hätte er wohl die Überwachung nicht als eine primitive technische Beobachtungsanlage konzipiert. Aber seine eindringliche Schilderung der Zerstörung der menschlichen Individualität durch eine perfekt funktionierende Staatsmaschinerie gehörte bei ihrem Erscheinen 1949 zu den meistdiskutierten Werken der Gegenwartsliteratur.

Tatsächlich ist die Aktualität des Buches bis heute ungebrochen, obwohl die Realität George Orwells Visionen längst überholt hat. Das Potential der Diktatur und der Repression ist inzwischen viel durchdringender als in der Vision des Autors. Gerade in unseren Tagen zeichnen sich die technischen Möglichkeiten für die totale Überwachung durch staatliche und halbstaatliche Organe und die drohende Gefahr einer bis ins letzte kontrollierten Gesellschaft bestürzend deutlich ab.

Der Überwachungsstaat, den Orwell für 1984 voraussagte, ist durch Kameras und Satelliten, Richtantennen und Sonden längst zum Standard geworden. Die Infrastruktur für eine weltweite Beherrschung aller Menschen ist heute, wo jeder Quadratmeter der Erdoberfläche von mehreren Satelliten beobachtet wird, keine Science Fiction mehr.

Am 22. Januar 1950 starb George Orwell, einer der größten politischen Romanciers und Visionäre unseres Jahrhunderts, im Alter von nur 46 Jahren in London.

 

Außer dem Roman "1984" (Ullstein) sind die deutschen Übersetzungen von George Orwells Romanen, Essays und Erzählungen im Diogenes Verlag, Zürich, erschienen und lieferbar. Ebenfalls bei Diogenes er- hältlich sind die Orwell-Biographien von George Woodcock (1985) und Michael Shelden (1993). Ferner gibt es zwei weitere Biographien von Stefan Howald (Rowohlt, 1997) und Hans-Christoph Schröder (Beck, 1988)


 
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