© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/00 04. Februar 2000

 
LOCKERUNGSÜBUNGEN
Erlösung
Karl Heinzen

Der Abschied vom traditionellen deutschen Hochschulsystem ist eingeläutet. Die Ausbildung wird nach den Vorstellungen des Wissenschaftsrates entschlackt und verkürzt: Was muß der Hochschulabsolvent wirklich können, um ein gut verwertbarer Mensch zu sein? Die Studierenden haben gelernt, wieder zuzuhören, wenn die Unternehmen ihnen hier Lektionen erteilen.

Die Gefahr, daß der gewachsene Wohlstand zu einer neuerlichen und diesmal durch Vermögen abgesicherten postmaterialistischen Gefühlskultur führen könnte, ist dabei längst gebannt. Unverantwortlich gegenüber seinen Mitmenschen handelt nur, wer das Erwerbsstreben diskreditiert. Der geringe Unterhaltungswert gesellschaftlichen Engagements kann von niemandem mehr geleugnet werden. Die Entlastung von sozialer Orientierung setzt hingegen Kräfte frei in der Verfolgung persönlicher Ziele. Dies ist einer der ganz wenigen Lichtblicke in den finsteren Jahren unter Helmut Kohl, da die jungen Menschen mit ihrem Eigeninteresse versöhnt wurden, ohne daß sie darüber ein schlechtes Gewissen bekommen hätten.

Allerdings ist von diesen jungen Menschen eine Revolutionierung der Hochschulpolitik nicht zu erwarten. Anders als bei ihren 68er Vorvätern müssen die Anstöße diesmal von außen kommen. Galt es damals, das Selbstverständnis des Akademikers als Elite seiner ihn dann tatsächlich im Erwerbsleben erwartenden Stellung anzunähern, so steht diesmal auf der Tagesordnung, den Lehrinhalten ihre auf nichts als Zweckfreiheit gründende Arroganz auszutreiben und sie damit ebenfalls in den gesellschaftlichen Wandel einzubeziehen. Das Bemühen, sich im Interesse einer internationalen Vergleichbarkeit der Hochschulausbildung von den Humboldtutopien zu verabschieden, darf auf die Zustimmung fast aller Betroffenen rechnen. Der Staat kann Einsparungen legitimieren, indem er seine Verantwortung auf das universitäre Einmaleins einschränkt. Die Differenzierung zwischen Bachelor- und Masterausbildung erlaubt die Einführung von Studiengebühren für letztere, ohne Gefühle des Sozialneides zu verletzen. Die Wirtschaft kann darauf vertrauen, letztinstanzlich über das Angebot der Hochschulen befinden zu dürfen. Ihre Entscheidung, welche Teile der Ausbildung unternehmensintern durchgeführt und welche an Universitäten ausgelagert werden, findet Gehör. Die Studierenden schließlich profitieren materiell durch die frühzeitige Konditionierung auf die Herrschaftsverhältnisse des Erwerbslebens und seelisch durch die Erlösung von dem Zwang, das Interesse für eine reine Wissenschaft heucheln zu müssen. Widerstand ist einzig von der Orthodoxie an den Universitäten zu erwarten. Doch sie kann sich trösten: Die Ideen von ’68 werden auch hier nicht bloß überwunden, sondern vollendet.


 
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