© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    07/00 11. Februar 2000

 
Wahrheit als politische Waffe
von Klaus Motschmann

Die Auseinandersetzungen um den Spendenskandal der CDU und die Flugaffären der SPD erinnern an eine Episode aus der Kirchengeschichte:

Als der tschechische Reformator Johannes Hus im Jahre 1415 auf dem bereits lichterloh brennenden Scheiterhaufen stand, bemerkte er noch ein altes Mütterchen, das mit haßverzerrtem Gesicht einen Scheit Holz in das Feuer warf. Er reagierte darauf mit seinen letzten Worten: "O sancta simplicitas" – "O heilige Einfalt".

Entstehende Ähnlichkeiten zwischen den Reaktionen jenes alten Mütterchens und denen maßgebender Politiker und Publizisten, Wissenschaftler, Theologen und sonstiger Meinungsmacher sind nicht rein zufällig. Sie erklären sich aus den Grundregeln massenpsychologischen Verhaltens, in dem die wirklichen oder auch nur symbolischen Scheiterhaufen eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehört unter anderem die weitgehende Zustimmung der breiten Masse, deren sich die Inquisitoren aller Zeiten sicher sein konnten und noch immer können, wenn sie sich in ihren Machenschaften auf "die Wahrheit" beriefen bzw. berufen. Und Wahrheit bleibt doch Wahrheit?!

Selbstverständlich!

Ebenso selbstverständlich sollte es aber auch sein, daß der Umgang mit der Wahrheit ein sehr hohes Maß an Verantwortung voraussetzt und sich auf gar keinen Fall allein an einer noch so edlen Gesinnung orientieren darf. Es kommt entgegen einem unausrottbaren Mißverständnis eben nicht nur darauf an, die Wahrheit zu sagen, sondern sehr viel mehr, die damit verbundene Absicht zu vermitteln. Eine Botschaft, eine Nachricht, eine Kampagne kann also nicht allein von ihrer Aussage her verstanden werden, sondern muß zu ihrem Verständnis eine ganze Reihe anderer Faktoren berücksichtigen.

Bertold Brecht hat in einer kleinen, aber aufschlußreichen Schrift aus dem Jahre 1934 unter dem Titel "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" auf diese Probleme hingewiesen, wobei er nicht nur die Schwierigkeiten im sogenannten Faschismus im Sinn hatte, sondern ausdrücklich auch in den Ländern der "bürgerlichen Demokratie".

Was für das Schreiben zutrifft, gilt erst recht auch für das Verstehen. Um Mißverständnisse oder Fehlinterpretationen zu vermeiden, hat der amerikanische Kommunikationssoziologe Harold Lasswell (1902–1978) die Grundregeln einstmals seriöser wissenschaftlicher und publizistischer Textanalysen zu einer inzwischen berühmten "6-W-Formel" oder auch "Lasswell-Formel" zusammengefaßt. Sie lautet: "Wer sagt was, wann und wo, zu wem und in welcher Absicht?"

Wer die "fünf Schwierigkeiten" Brechts und die "6-W-Formel" Lasswells zum Verständnis der nunmehr seit Wochen andauernden Auseinandersetzungen um die Finanzskandale in der CDU bzw. in der SPD auch nur einigermaßen beachtet und die entsprechenden Rückfragen stellt, wird sehr schnell auf ernüchternde Einsichten stoßen. Die Wahrheit macht nicht unbedingt frei, wie man ein mißverstandenes Bibelwort immer wieder gedankenlos zitieren hört; die Wahrheit kann auch wörtlich betäuben, d. h. den Menschen handlungsunfähig machen und die menschliche Gemeinschaft zerstören.

Es sollte zu denken geben, daß gerade die christlichen Kirchen auf Grund ihrer langen Geschichte bislang stets vor einem allzu naiven Umgang mit der Wahrheit, vor allem aber vor einem "Wahrheitsfanatismus" im öffentlichen Leben als einer "Satansweisheit" gewarnt haben.

Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer hat unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen mit dem politischen Totalitarismus seiner Zeit in seiner weithin bekannten Ethik dazu die allgemeingültige Feststellung getroffen: "Es ist der Zyniker, der unter dem Anspruch, überall und jederzeit und jedem Menschen in gleicher Weise ‚die Wahrheit zu sagen‘, nur ein totes Götzenbild der Wahrheit zur Schau stellt. Indem er sich den Nimbus des Wahrheitsfanatikers gibt, der auf menschliche Schwachheiten keine Rücksicht nehmen kann, zerstört er die lebendige Wahrheit zwischen den Menschen. Er verletzt die Scham, entheiligt das Geheimnis, bricht das Vertrauen, verrät die Gemeinschaft, in der er lebt, und lächelt hochmütig über das Trümmerfeld, das er angerichtet hat, über die menschliche Schwäche, die die ‚Wahrheit nicht ertragen kann‘. Er sagt, die Wahrheit sei zerstörerisch und fordere ihre Opfer, und er fühlt sich wie ein Gott über den schwachen Kreaturen und weiß nicht, daß er dem Satan dient."

Damit ist selbstverständlich kein Freibrief für das Verheimlichen von Verstößen gegen Recht und Ordnung ausgestellt, aus Rücksicht auf die Schwachheiten vieler Menschen. Es wird lediglich eine alte Erfahrung aufs neue in die Erinnerung gerufen: daß sich die Mächte der Verführung so weit wie möglich auf die "Wahrheit" berufen und damit Menschen dienstbar machen.

Bezogen auf die in Frage stehenden gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Skandale der CDU und der SPD wird inzwischen niemand mehr ernsthaft die Wahrheit der wesentlichen Aussagen bezweifeln, sieht man von einigen Einzelheiten ab.

Allerdings wachsen die Zweifel von Tag zu Tag und mit jeder neuen Enthüllung, welche Absicht damit verfolgt wird. Ständig wird ein neuer "Anfangsverdacht" geweckt, und mit ihm die alten Verdächtigungen gegen das "System", und zwar nicht nur gegen das "System Kohl".

Es ist auffällig viel vom "gesellschaftlichen Nährboden" für die aufgedeckten Gesetzwidrigkeiten, von der "Spitze des Eisbergs", von "systemimmanenten Bruchstellen", von der Notwendigkeit der "Trockenlegung eines Sumpfes" usw. usf. die Rede. Da und dort ist auch die immer noch wenig beachtete antifaschistische These zu vernehmen, daß der "Faschismus nur als Kapitalismus bekämpft werden kann" (Bert Brecht u.v.a.).

Der aus diesen Beobachtungen resultierende "Anfangsverdacht" einer ideologisch motivierten Inszenierung des Skandals verdichtet sich mehr und mehr zu der Gewißheit, daß es nicht um Abwendung von weiteren Rechtsbrüchen bzw. um die Behebung eingetretener Schäden im Sinne einer Erhaltung des Systems geht, sondern um seine Veränderung; insofern also um eine der letzten Etappen der Systemveränderung mit anderen Mitteln.

Dafür gibt es zahlreiche eindeutige Indizien, die im Rahmen dieses Beitrages nicht dargestellt werden können. Dazu gehören unter anderem die aufschlußreichen Auslassungen zum Begriff der Ehre, veranlaßt durch die Berufung Helmut Kohls auf sein Ehrenwort gegenüber bestimmten Spendern. Namhafte Politiker, Publizisten und Theologen stufen ihn inzwischen als Ausdruck eines "archaischen" Rechts- und Moralverständnisses ein und lassen nur noch den Maßstab des Gesetzes, nicht mehr das Sittengesetz gelten. Das hatten wir doch schon mal?!

Im übrigen ist dieser Wandel der Rechtsauffassungen ein überzeugender Beleg, wie rasch sich politische und gesellschaftliche Leitideen auch unter demokratischen Rahmenbedingungen wandeln. Noch vor 25 Jahren äußerte sich zum Beispiel Nobelpreisträger Heinrich Böll in seinem Roman "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" sehr viel anders zu diesem Thema, besuchten Philosophen und Theologen, Politiker und Schriftsteller Terroristen in den Gefängnissen, warnten Journalisten vor einer Kriminalisierung (dieser Art von Gesetzesverstößen) und erinnerten Pfarrer die "aufbegehrenden Jugendlichen", daß sie nicht "auf das Grundgesetz getauft" seien und demzufolge "Gott mehr gehorchen müßten als den Menschen". Heute wird selbst in seriösen evangelischen Kommentaren geschrieben: "Geben wir dem Recht die Ehre" – also nicht Gott.

Um keinen Ansatz eines Mißverständnisses aufkommen zu lassen! Es hat über die Jahre hinweg sehr viel schwerwiegendere Gründe der Kritik am "System" gegeben als die jetzt nervös diskutierten Spendenpraktiken der CDU und Flugaffären der SPD. Man denke nur an die verfassungswidrigen, gleichwohl "legalen" Tötungen von jährlich ca. 150.000 ungeborenen Kindern, an die astronomische Verschuldung der öffentlichen Hand auf Kosten der nächsten Generation in Höhe von etwa 1,5 Billionen Mark am Ende der Ära Kohl, an die von der CDU vorgenommenen Weichenstellung ins Euro-Wunderland, an die Abschaffung der DM zugunsten einer Währung, die schon heute alle Voraussagen über ihre Stärke Lügen straft oder – neben vielen anderen Entscheidungen – an die rigorose Ausgrenzung aller konservativen Parteien und Verbände aus dem Prozeß der politischen Urteils- und Willensbildung im Standort Deutschland.

Aber, auch dies muß bedacht werden: Es wäre ein bedenklicher Trugschluß, für diese für unser Volk und unsere Zukunft verhängnisvollen Entscheidungen des "System Kohl" die CDU insgesamt verantwortlich zu machen. Bei aller berechtigten Skepsis und aller gebotenen Warnung vor Illusionen bzw. Fehleinschätzungen der Möglichkeiten und des Willens in weiten Teilen der CDU sollte dennoch die Hoffnung gehegt werden, daß sich die CDU nach dem Zusammenbruch des "System Kohl" zu einem radikalen (d. h. nach dem Wortsinn an die Wurzeln gehenden) Wandel bereit ist und dabei die Erfahrungen der gründlich mißratenen "geistig-moralischen Wende" von 1982 ff. und der Enttäuschungen der politischen Wende von 1989 ff. berücksichtigt. Sie besagen, daß man sie nicht gegen den Willen eines Großteils und erst recht nicht unter Ausschluß eines beachtlichen Teiles unseres Volkes, nenne man ihn ganz neutral die Partei der Nichtwähler, durchführen kann. Es sei denn, man nehme eine Implosion des Systems in Kauf.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaften an der Hochschule der Künste in Berlin. Bislang äußerten sich auf dem Forum zur CDU-Spendenaffäre und der Krise des Parteienstaates: Prof. Dr. Klaus Hornung ("Mehr Demokratie!", JF 5/00) und Roland Baader ("Das bevormundete Volk", JF 6/00).


 
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