© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/00 18. Februar 2000

 
Schriftsteller: Alfred Andersch bleibt über Genzen hinweg aktuell
Ein linker Waldgänger
Doris Neujahr

In seinem bekanntesten Buch, dem Roman "Sansibar oder der letzte Grund" (1957), läßt Alfred Andersch (1914–1980) den jungen Gregor, einen Kommunisten, in dem er auch ein Selbstporträt gezeichnet hat, während der NS-Diktatur Abschied von der Kommunistischen Partei nehmen: "Es war sein glücklichster und sein endgültiger Gedanke: ich steige aus. (...) Ich kann gehen. Ich gehe natürlich auch, weil ich Angst habe, dachte er unerbittlich. Aber ich gehe auch, weil ich anders leben will. Ich will nicht Angst haben, weil ich Aufträge ausführen muß, an die ich (…) nicht glaube."

Andersch hat hier eine Entscheidungssituation dargestellt, in der jemand die Wahl trifft, sich aus seinen politischen Bindungen, den weltanschaulichen Gewißheiten und von seinem Umfeld zu verabschieden, weil sie für das, was er aufgrund neuer Lebenserfahrungen als richtig erkannt hat, keinen Rahmen mehr bieten. Sein Eingeständnis, Angst zu haben, bedeutet in diesem Zusammenhang keine Feigheit und mindert den Wert dieser Entscheidung nicht im geringsten, weil Mut dazu gehört, sich neben der Angst auch einzugestehen, daß sie sich nicht lohnt, nie gelohnt hat, und sich zugunsten des Wagnisses der Freiheit konsequent von der eigenen Vergangenheit zu trennen.

In dieser intensiven Roman-Szene ist der ganze Alfred Andersch versammelt, für dessen Leben und Schaffen "Freiheit" und "Entscheidung" zentrale Begriffe waren. In einem nach dem Zweiten Weltkrieg verfaßten "Appell an die persönliche Entscheidung" identifizierte er "Freiheit und Existenz" und setzte "die Viskosität eines entscheidungslosen Daseins (gleich) mit Unmenschlichkeit und Tod". In seinem zweiten, 1952 erschienenen autobiographischen Buch "Kirschen der Freiheit" (seine erste Buchpublikation hieß "Deutsche Literatur in der Entscheidung") hatte er von der "Möglichkeit der absoluten Freiheit" geschrieben, die sich "in der Sekunde vor der Entscheidung" verwirkliche. Noch wichtiger als der Vollzug der Entscheidung selber sei es, "sich die Anlage zur Freiheit zu erhalten".

Zu recht wird auf den Einfluß des französischen Existentialismus verwiesen. Ebenfalls wichtig für die Ausformung seines Weltbildes und jedenfalls ursprünglicher war das Erlebnis der Weimarer Endzeit und ihrer intellektuellen Debatten, in denen die "Entscheidung" (Carl Schmitt), "Entschlossenheit" (Martin Heidegger) und "Kampf" (Ernst Jünger) zu Schlüsselbegriffen wurden.

Das früheste Kindheitserlebnis, das Andersch mitteilt, handelt vom Ende der Münchner Räterepublik. Als Fünfjähriger erlebt er vom Balkon der elterlichen Wohnung den Vorbeizug gefangener Revolutionäre, die sein Vater als "Gesindel" tituliert. Der Vater, von Beruf Buchhändler und Antiquar, patriotisch und konservativ gesinnt, ist als Offizier aus dem Krieg heimgekehrt. Noch auf dem Münchner Bahnhof hat man ihm die Achselstücke heruntergerissen. Die deutsche Niederlage faßt er als persönliche Schmach auf, was sich auf ihn und die Familie zerstörerisch auswirkt. Sämtliche Energien investiert er in eine nationalistisch-antidemokratische Politik, als Ludendorff-Bewunderer gehört er zu den Teilnehmern des Marsches auf die Feldherrnhalle am 9. November 1923. Die ehedem gutbürgerliche Familie verarmt darüber zusehens. Schließlich bricht eine Kriegsverwundung auf, ein Bein muß amputiert werden, die Wunde verheilt nicht. Zwei Jahre, bis 1929, dauert sein durch Morphium notdürftig gelindertes Martyrium, dem er – wovon Alfred Andersch überzeugt ist – bloß deswegen kein Ende von eigener Hand bereitet, um der Familie die Kriegsopferrente zu erhalten.

Für Alfred und seinen älteren Bruder Rudolf war der Vater ein Gescheiterter. Gescheitert war in ihren Augen aber auch der Staat, der diesem stolzen Menschen keine Identifikationsmöglichkeit bot und durch seine engherzige Rentenregelung zu einem qualvollen Tod erpreßte. Rudolf trat in die NSDAP ein, Alfred in die KPD. Beide schlossen sich damit Parteien an, die sich als die radikalsten Gegner des alten Staates anboten. Für Alfred war es zugleich eine Distanzierung vom Nationalismus des Vaters.

Unmittelbar nach der "Gleichschaltung" Bayerns durch Hitler Anfang März 1933 kam er für sechs Wochen ins KZ Dachau. Von direkten Mißhandlungen verschont, erlebte er doch als Augen- und Ohrenzeuge die Exzesse des Terrors. Sein Verhältnis zum Bruder, der inzwischen SA-Mann war, intensivierte sich in dieser Phase wieder – Rudolf versorgte ihn im KZ mit Büchern –, die Bindungen an die konträren Parteien waren also nicht absolut. Noch im selben Jahr vollzog Andersch die Abkehr von der KPD.

Es kennzeichnet ihn, daß ihn die andere totalitäre Spielart, die für viele seines Alters zur Verführung wurde, kalt ließ. Der abgebrochene Gymnasiast fand Anstellungen im Buchhandel und in Werbeabteilungen, gründete eine Familie, er las viel, fuhr nach Italien, in die Schweiz, reiste innerhalb Deutschlands, beschäftigte sich mit Kunstgeschichte, unternahm Schreibversuche, kurzum: "Ich antwortete auf den totalen Staat mit der totalen Introversion." Was wie ein Rückzug aus der Wirklichkeit aussehen konnte, war in Wahrheit eine Vorbereitung für ein späteres, freies Handeln. Emblematisch für Anderschs Situation dieser Jahre steht der "Lesende Klosterschüler", eine tief in ein Buch versunkene Holzfigur von Ernst Barlach, in der auch Gregor aus dem "Sansibar"-Roman sein heimliches Alter ego erblickt und die ihm den letzten Anstoß zu seinen Entschlüssen gibt. Inmitten einer Welt, in der das freie Gespräch erstorben ist, führt jemand das Zwiegespräch mit dem unerwünschten Geist der Kultur und Humanität fort, der zwischen den Buchdeckeln ein letztes Exil gefunden hat, und setzt der Außenwelt einen äußersten Widerstand entgegen, einfach indem er sich ihren giftigen Verlockungen hermetisch verschließt.

Seit 1940 war Andersch Bausoldat, 1941 wurde er wegen seiner KZ-Vergangenheit aus der Armee entlassen, 1944 erneut eingezogen. Er kam nach Italien und wagte bei der ersten Gelegenheit die Flucht zu den Amerikanern. Die Gültigkeit des auf Hitler – "die Kanalratte" – geleisteten Eides wischte er vom Tisch: "Der Eid wurde (…) unter Zwang geleistet. Auf seine Verweigerung stand der Tod. Er war damit null und nichtig. Der Ungläubige kann die Worte einer Eidesformel sprechen, ohne daß dieser Vorgang mehr berührt als Lippen und Zunge."

Anderschs Handeln und dessen nachträgliche Interpretationen standen eindeutig unter dem Einfluß von Ernst Jünger. Das Buch "Auf den Marmorklippen" (1939) war für ihn ein erregendes Lektüreerlebnis und bestärkte ihn darin, daß Hitler, der "Oberförster", keinen Anspruch auf Loyalität besaß. Nach dem Krieg fühlte Andersch sich vor allem vom Essay "Der Waldgang" (1951) angesprochen.

Jüngers Beharren auf dem "ursprünglichen Verhältnis zur Freiheit" und dem offenen Zugang "zu den Mächten, die den zeitlichen überlegen sind", ging mit seiner eigenen praktizierten Verweigerung dem übermächtigen Staat gegenüber konform. Was Jünger als "Überschreitung der Linie" bezeichnet, war für ihn direkt die Überschreitung der Frontlinie. Obwohl Andersch sich in Bezug auf das Soziale, in seiner Stellung zur Demokratie und zum Militär von Jünger stark unterschied und er sich politisch nach wie vor "links" definierte, hat er, im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen, Jüngers Bedeutung nie geleugnet. In einer späten Laudatio auf Jünger erwähnte er dessen frühen, durchaus zweifelhaften Einfluß auf ihn, um dann eindeutig zu bekennen. "Was wir in ihm zu ehren haben, ist die einfachste und seltenste aller menschlichen Eigenschaften: Mut." Einen Tag vor seinem Tod am 21. Februar 1980 spottete Andersch noch: "Wie bringt’s der Jünger nur fertig, so lange zu leben. Der ist doch zwanzig Jahre älter. Und ich ..." 1946 setzen die Amerikaner ihn gemeinsam mit Hans Werner Richter, den späteren Gründer der "Gruppe 47", als Herausgeber der Zeitschrift Der Ruf ein, die unter jungen Intellektuellen schnell zu Einfluß gelangte. Andersch hatte sich schon während seiner inneren Exilzeit intensiv mit der amerikanischen Literatur beschäftigt, "Antiamerikanismus" war ihm fremd. Trotzdem kam es schnell zu Differenzen mit der Besatzungsmacht, weil diese die Zeitschrift als Sprachrohr ihrer eigenen, globalpolitischen Ziele betrachtete. Anderschs Vorstellungen von einer geistigen Elite in Deutschland, die von Jünger zu Brecht, von Benn zu Thomas Mann reichte, wirkten störend. Dem Konzept der "Umerziehung" der Deutschen setzte er die "Wandlung als eigene Leistung" gegenüber. Schließlich wurden Andersch und Richter wegen "nationalistischer Tendenzen" und "Nihilismus’" abgesetzt.

Sein – durchaus heterogenes – literarisches Werk, das Romane, Erzählungen, Gedichte, Hörspiele, Essays umfaßt, und die biographischen Stationen können hier nicht einzeln gewürdigt werden. Erwähnt werden aber soll der Skandal, den das Gedicht "Artikel 3(3)" auslöste, mit dem Andersch im Januar 1976 gegen die Praxis des Radikalenerlasses ("Berufsverbote") protestierte. Darin heißt es: "die radikalen sind ausgeschlossen / vom öffentlichen Dienst / also eingeschlossen / ins lager / das errichtet wird / für den Gedanken an / die veränderung / öffentlichen Dienstes // die gesellschaft / ist wieder geteilt / in wächter / und bewachte // wie gehabt / ein geruch / breitet sich aus / der geruch einer maschine / die gas erzeugt".

Vor allem in der konservativen Presse wurde ihm diese Attacke übel genommen, oft mit treffenden Argumenten. Denn natürlich ging der Vergleich der Bundesrepublik mit dem "Dritten Reich" fehl, natürlich war der Anspruch mancher vom Berufsverbot Betroffener, die sozialistische Revolution und die Staatspension im Doppelpack zu bekommen, entweder hybrid oder naiv.

Doch die Kritik traf nur einen vordergründigen Aspekt des Gedichts. Hier sprach ja kein wiedererweckter Altkommunist, sondern ein linker Waldgänger, der voller Sorge sah, daß die Staatsmacht sich erneut tendenziell als Überinstanz der Gewissensfreiheit gerierte. Das mußte Andersch als den denkbar schlimmsten Angriff auf seine eigenen Grundsätze ansehen. Er war überzeugt davon, daß damit ein Opportunismus erzeugt wurde, der womöglich noch tückischer ("eigentlich waren / die nazis / ehrlicher / zugegeben / die neue Methode ist / cleverer") war als der, den er im "Dritten Reich" erlebt hatte. Auch in dieser Hinsicht bleibt Alfred Andersch, zwanzig Jahre nach seinem Tod, über alle politischen Grenzen hinweg aktuell.

Das Gesamtwerk von Alfred Andersch erscheint im Diogenes Verlag, Zürich.


 
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