© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    08/00 18. Februar 2000

 
Nachruf: Henry Jaeger
Werner Olles

Die Geschichte des Posträubers und Schriftstellers Henry Jaeger ist ein deutscher Bildungsroman des 20. Jahrhunderts, angesiedelt an den Bruchstellen der bürgerlichen Kultur; eingeengt von den Normen der bundesrepublikanischen Nachkriegsmoral, enthält seine Vita wichtige Hinweise auf grundsätzlich andere kulturelle und moralische Maßstäbe. Verbrechen und Kultur kreuzen sich in diesem Lebensroman in sehr alltäglicher, banaler Weise.

Henry (eigtl. Karl-Heinz) Jaeger wurde am 29. Juni 1927 in Frankfurt geboren. Im März 1945 desertierte der 17jährige Fallschirmspringer und begann nach kurzer Kriegsgefangenschaft eine Arbeit als Laborant im amerikanischen Militär-Hospital in Frankfurt am Main. Als er Medikamente, vornehmlich Antibiotika, verschob, wurde er im Milieu der Frankfurter Halb- und Unterwelt rasch bekannt. In einem auf dem Frankfurter Südbahnhof abgestellten Sonderzug Hitlers behandelte er mit seinem geschmuggelten Penicillin US-Soldaten, die sich mit Gonorrhoe infiziert hatten. In den Kneipen und Nachtclubs des Milieus wurde die "Jaeger-Bande" bald zu einer Legende. 1955 bekam er von einer Kriegerwitwe den Tip, bei einer Rentenzahlstelle der Bundespost sei eine Menge Geld zu holen. Tatsächlich erbeuten die Gangster die für damalige Zeiten erstaunliche Summe von 80.000 Mark. Aber dann ging so ziemlich alles schief. Zwar halfen die anwesenden Rentner noch beim Verpacken der Beute, doch dann versagte Jaegers Fluchtauto seinen Dienst.

Das Urteil lautete auf zwölf Jahre Zuchthaus wegen mehrerer Überfälle. In der Haft freundete er sich mit dem Anstaltspfarrer an, der ihn motivierte, wieder mit dem schreiben zu beginnen. Auf Toilettenpapier entstand hier Jaegers erstes Buch, "Die Festung". 1962 veröffentlicht, fand der Roman, in dem er das Elend der Heimatvertriebenen im noch weitgehend zerstörten Nachkriegsdeutschland schildert, selbst bei der internationalen Literaturkritik Beachtung.

"Die Festung" – in achtzehn Sprachen übersetzt und mit Hildegard Knef und Martin Held verfilmt – wurde zu einem Welterfolg und Henry Jaeger 1963 begnadigt. Für kurze Zeit arbeitete er in der Lokalredaktion der Frankfurter Rundschau, und noch im gleichen Jahr erschien sein autobiographisch gefärbtes zweites Buch "Rebellion der Verlorenen". Jaeger hatte inzwischen begonnen, aus den Tantiemen seiner Werke die Postraubbeute mit Zins und Zinseszins zurückzuzahlen.

Ende der sechziger Jahre ließ er sich in Ascona im Tessin nieder. Er schrieb weiter Romane wie "Das Freudenhaus", "Jakob auf der Leiter", "Tod eines Boxers", "Unter Anklage", "Amoklauf" oder "Ein Mann für eine Stunde". Doch die Kritik bezeichnete seine Bücher nun als "Trivialliteratur", und Jaeger, der um jeden Preis als ernsthafter Schriftsteller geachtet werden wollte, griff immer häufiger zur Flasche. Einsam, verarmt und krank starb Henry Jaeger am 4. Februar im Alter von 72 Jahren in einer Klinik in Ascona.


 
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