© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/00 25. Februar 2000

 
Pankraz,
Zivilreligionen und die Abschaffung der Politik

Früher, als das Wählen noch geholfen hat, fiel das Sichentscheiden leicht. Man hatte die Auswahl zwischen links und rechts, zwischen "Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit" einerseits, "Gott-Vaterland-Familie" andererseits. Heute kann, wer sich nicht verdächtig machen will und deshalb brav innerhalb des "Verfassungsbogens" bleibt, nur noch eine einzige Trias "wählen": "Holocaust-Multikulti-Freie Lebensgemeinschaften". Ob SPD oder CDU/CSU, FDP, Grüne oder PDS – sie alle bieten, sobald es grundsätzlich wird, dasselbe. Jeder Wähler hat die gleiche Suppe auszulöffeln. Schon kleinste oder auch nur scheinbare Abweichungen werden international verfolgt, wie die EU-Sanktionen gegen Österreich beweisen.

Der Holocaust ist an die Stelle Gottes getreten. Über "das hohe C" im Namen von Parteien darf man spotten, aber an den Holocaust muß man glauben; wer Zweifel erkennen läßt, verschwindet hinter Gittern. Nicht viel anders steht es mit Multikulti. Das Vaterland, die Polis, darf nach Belieben verhöhnt werden; wer Multikulti ablehnt, wer Zuwanderung begrenzen oder Sozialhilfe für "Asylanten" kürzen will, der outet sich als "Rassist", und das ist fast so schlimm wie "Verharmloser des Holocaust". Auch der "Rassist" gehört nach dem Willen der EU in den Knast.

Noch nicht ganz so streng verfährt man mit den Anhängern der Familie, doch auch hier zieht sich die Schlinge immer enger zusammen. Familiendenken gilt als vormodern, illiberal, medienungemäß. Von Gysi bis Merkel tönt der Ruf nach rechtlicher Gleichstellung aller möglichen "Lebensgemeinschaften", und kein Politiker, der auf sich hält, verschließt sich dem Ruf.

Auf den ersten Blick scheint es nur einen einzigen Verlierer in dieser Entwicklung zu geben: die Rechten, die sogenannten Konservativen. Sie, die auf der "Bindung" des einzelnen beharren und sie ins Programm schreiben, weil sie sich eine Politik ohne gottgesegnete und durch Familien befestigte Polis gar nicht vorstellen können, müssen mitansehen, wie ihre transzendentalen Werte durch historische Simulacra schneidend profaniert und ausgetauscht werden. Die Ablösung Gottes durch den Holocaust ist dafür das eindrucksvollste Beispiel.

Auch der Gottesglaube kennt zwar das Ur-, das Anfangsverbrechen; ihm zufolge ist die ganze Welt dieses Urverbrechen, denn durch die Erschaffung der Welt mußte Gott notwendig das Böse in die Welt lassen. Aber Gott verheißt bekanntlich auch Verzeihung, Rückkehr in seine Gnade. Die rituelle Beschwörung des Holocaust dagegen kennt die Rückkehr der Gnade gerade nicht. Politik, die in seinem Zeichen gemacht wird, instrumentalisiert den ewigen Racheschrei, den Unfrieden, die unaufhebbare Unterteilung der Politikteilnehmer in Gerechte und Ungerechte. Eine solche Perspektive widerspricht jedem konservativen Politikverständnis.

Doch nicht nur die Rechten und Konservativen, sondern auch die Linken und Progressiven werden durch die Aufrichtung der Zwangstrias Holocaust-Multikulti-Freie Lebensgemeinschaften auf Dauer beschädigt und von sich selbst entfremdet. Ihr Freiheitsverlangen gerät ins Geschirr einer Zivilreligion, das nicht weniger schwer zu tragen ist als die Lasten alter Religionen, eher noch schwerer. Jedes freie und genaue Forschen wird wieder verboten.

Dem progressistischen Traum von Gleichheit und Brüderlichkeit werden gewissermaßen sämtliche Zähne gezogen, noch der letzte Hauch von Begeisterung abtrainiert. An die Stelle der heimatlichen Polis, deren Forderungen den Linken einst so unzumutbar erschienen, tritt eine Kosmopolis, mit "Werten" (den sogenannten Menschenrechten), die mindestens so diffus und manipulierbar sind wie die althergebrachten Forderungen der Polis; ein bedrückendes Exempel dafür lieferte die aufdringliche Menschenrechts-Propaganda, die letztes Jahr von der Nato im Kosovo-Krieg parallel zum Bombenschmeißen organisiert wurde.

Während man aber den Forderungen der Polis ziemlich leicht entkommen kann (indem man tapfer für eine andere Polis optiert und sich ihrer speziellen Kultur anverwandelt), läßt die Kosmopolis keinen Spielraum mehr. Überall dieselbe Multi-Kulti-Soße, man kann auch sagen: überall derselbe Duty Free Shop mit genormten Seifen und High-Label-Taschen. Und an die Stelle der klaren Gesetze der Polis tritt die mafiotische Verabredung von Clans, die den hemmungslosen Stammes-Egoismus und den Haß auf andere Clans schüren – eine grelle Karikatur, ein Hohn auf jedes emphatische Verständnis von Brüderlichkeit wie von Familiarität.

Rechte oder Linke: beide gehören, genau betrachtet, gleichermaßen zu den "Modernitäts-Verlierern". Es geht gar nicht wirklich um den Sieg der einen oder der anderen Seite in der Politik, es geht vielmehr um die Abschaffung der Politik überhaupt, jedenfalls soweit Politik noch mit Wählen, mit Sichentscheiden und Sich-leidenschaftlich-für-eine-Sache-Einsetzen zu tun hat.

EU-Europa, das (siehe Österreich) völlig ungeniert seine zukünftigen Folterwerkzeuge vorzeigt, entpuppt sich als Instrument zur Abschaffung Europas, jenes Europas, in dem einst der Begriff demokratischer Politik als Ausdruck von Vielfalt und alternativem Verhalten geprägt und verwirklicht wurde. Insofern macht es fast einen sarkastischen historischen Sinn, daß zur selben Zeit Helmut Kohl ("Mr. Europa") und seine CDU, die ja längst jeden Anspruch einer konservativen Partei auf Gott, Vaterland und Familie in den Wind geschrieben hatte, ein für allemal abgelegt werden, bzw. im Orkus von Skandal und Korruption verschwinden.

Daß aus dem Zerfall neue, geläuterte politische Formen hervorgehen werden, die Wählbarkeiten wiederherstellen und Religionen aus dem Prokrustesbett bloßer Zivilität entlassen, wagt man freilich (noch) nicht zu hoffen. Die linke Seite der Politik müßte wohl noch mehr als bisher in die Affären verwickelt werden.


 
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