© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/00 25. Februar 2000

 
Heimat für die Heimatlosen
von Carl Gustafströhm

er das Schicksal der CDU betrachtet, kann keinerlei Schadenfreude empfinden. Die Zerfallserscheinungen – um nichts anderes handelt es sich – haben eine Partei zu Boden geworfen, die in ihren besten Zeiten den politischen, wirtschafltichen und seelischen Aufstieg (West-)Deutschlands aus der Katastrophe von 1945 ermöglicht hat. Konrad Adenauer, den ich für den bedeutendsten deutschen Staatsmann des 20. Jahrhunderts halte, wäre ohne die (damalige) CDU nicht möglich gewesen. Schon vor Jahren erweckte ich den Unwillen einiger CDU-Mandatsträger, als ich ihnen bei einer Diskussion sagte: "Würde Adenauer heute auf die Erde zurückkehren, die heutige CDU würde ihm nicht einmal ein Landtagsmandat anbieten, geschweige denn den Parteivorsitz." Zu jener Zeit war von Spendenaffären und Finanzskandalen noch keine Rede.

Wohl aber spürte man zum einen die im wahrsten Sinne des Wortes "mörderische" Personalpolitik Helmut Kohls – und zum anderen das Abflachen des politisch-moralischen Profils dieser Partei. Nicht oft genug kann in diesem Zusammenhang an den leider viel zu früh verstorbenen CDU-Abgeordneten Werner Marx erinnert werden, der mir zu Beginn der siebziger Jahre, als Kohl gerade dabei war, sich den Weg zum Parteivorsitz der Union zu ebnen, fast beschwörend sagte, dieser Mann werde gewiß den Weg an die Spitze der Partei schaffen und sogar Kanzler werden – aber wenn er eines Tages die Bühne verlasse, werde er die CDU als Trümmerhaufen hinterlassen, auf dem kein Gras mehr wachse.

Gewiß sollte Politik nicht auf die Vergangenheit fixiert sein. Aber die unerhörte Leichtigkeit, mit der die CDU unter Kohl alle (oder fast alle) Prinzipien über Bord warf und sich dem Zeitgeist anpaßte, sollte doch zu denken geben. Die vielgeschmähte Adenauer-CDU war eine christlich orientierte, gewiß in manchen Segmenten sehr katholische Partei, aber sie hatte einen starken nationalen Flügel. Dieser war so einflußreich, daß er zwei evangelisch-nationale Bundestagspräsidenten (Hermann Ehlers, Eugen Gerstenmaier) und mehrere Bundesminister (Robert Lehr, Gerhard Schröder – nicht identisch mit dem heutigen Kanzler) stellte – um nur einige unter vielen Beispielen zu nennen. Zwei Einzelheiten, die heute fast unvorstellbar anmuten: Bei einem Vortrag in München, an dem ich als damals junger Zuhörer teilnahm, befaßte sich 1953 Bundestagspräsident Ehlers mit dem Schicksal der Vertriebenen und der Deutschen im Osten – und sagte, auf ihn habe eine Reise zu den deutschen Gemeinden Siebenbürgens, die er als Student mit dem Fahrrad unternomen habe, unauslöschlichen Eindruck gemacht und ihn tief bewegt. Und Eugen Gerstenmaier sagte in einem Diskussionskreis, er sei eigentlich dafür, die Bundesrepublik Deutschland in "Deutsches Reich" zu benennen, denn, so Gerstenmaier, dieser Staat sei ja nichts anderes als das Reich. Man stelle sich heute einen CDU-Politiker vor, der so etwas zu sagen oder auch nur zu denken wagte! Beobachtung durch den Verfassungsschutz wäre ihm gewiß.

Unter Adenauer war die CDU, wie immer man sie sonst klassifizieren mochte, ein "interessanter Haufen". Der "autoritäre" und angeblich "rheinbündische" Adenauer hatte eine Plejade von interessanten, ausgeprägten, zum Teil recht eigenwilligen Persönlichkeiten um sich versammelt. Gewiß, auch da gab es Intrigen, Machtkämpfe und sogar Skandale – aber da der Kompaß stimmte, blieb das Schiff auch in stürmischer See auf Kurs. Nicht zu vergessen: die frühe Bundesrepublik, deren Bild durch die 68er-Geschichtsschreibung und Publizistik bis zur Unkenntlichkeit verfälscht und mit Adjektiven wie "restaurativ", "muffig" und "spießig" zugedeckt wurde, verstand sich in Wirklichkeit auch in den dynamischen Aufbau- und Wirtschaftswunderjahren nicht nur als ökonomische Zweckgemeinschaft. Selbst der Vater des Wunders, Ludwig Erhard, forderte zum "Maßhalten" auf und beschwor die ethischen Grundlagen wirtschaftlichen Handelns. Noch einmal schien es, als würde das "bürgerliche" Deutschland, vertreten durch die CDU, zu nicht nur ökonomischer, sondern auch politischer und moralischer Blüte gelangen.

Daß es anders kam, ist nicht allein die Schuld von Kohl, sondern das Resultat eines langwierigen Erosionsprozesses, der schon in den letzten Adenauer-Jahren einsetzte. Kohl hat ja in seiner Amtszeit durchaus immer wieder Begriffe wie "Vaterland" und "Geschichte" in den Mund genommen, aber als es um entscheidende Richtungsweisungen ging, zeigte sich, daß er das doch nur als rhetorisches Beiwerk betrachtete. Es war ihm, um bei einer neudeutschen Wortkonstruktion zu bleiben, "kein wirkliches Anliegen".

Unter seiner Führung hat sich die Union nicht nur "sozialdemokratisiert" – sie wurde zu einer Hülse ohne Inhalt. Mit flachbrüstigen Europa-Aktivitäten wurde alles zugedeckt. Die Politik wurde zum Selbstzweck: ein Herumgeschiebe auf dem deutschen und internationalen Parkett. Selbst die Wiedervereinigung wurde zum Nebenprodukt eines "europäischen" Deutschlands degradiert, der "Nationalstaat" heruntergemacht. Man wich den entscheidenden Fragen aus und beschränkte sich auf die klassische Nichts-Sage-Parole "Weiter so, Deutschland!" Was jetzt an Finanzgeschichten herauskommt, erscheint nur als Symptom und Folge des vorangegangenen inhaltlichen Verfalls.

Was mich am meisten mit Sorge erfüllt, ist die Tatsache, daß sich nun Kohls plötzlich zutage tretenden innerparteilichen Kritiker (wo waren sie denn in all den früheren Jahren?) und präsumtiven Nachfolger in finanz- und zivilrechtlichen Exkursionen erschöpfen und überhaupt nicht vom Inhalt reden. In dieser Hinsicht sind Kohls CDU-interne Gegner selber unbewußt und gewollt zu einem Teil des System Kohl geworden. Solange sich kein mutiger Mann (oder keine mutige Frau) findet, der aus diesem finanztechnischen Labyrinth ausbricht und wieder die Frage nach den Inhalten stellt - kann aus dieser Partei so oder so nichts werden.

Wie aber soll es weitergehen? Ein Zerfall der CDU in mehrere einander bekriegende Mittel- oder Kleinparteien (à la Italien) erscheint möglich, würde aber zu einer Marginalisierung der "bürgerlichen" Kräfte führen (wobei ich mir aus Platzgründen eine Definition des Begriffs "Bürgertum" erspare, die aber an sich notwendig wäre). Motto: "Es geschieht mir ganz recht, daß ich mir meine Finger abfriere – warum hat mein Vater mir nicht rechtzeitig Handschuhe gekauft?"

Wenn aus der CDU jemals wieder etwas werden soll, muß die Partei sich klar werden, welche Position sie bezieht. "Mitte" allein genügt nicht in einer Zeit, wo sich alle, die Sozialdemokraten und neuerdings sogar die Grünen als "Mitte" definieren. Wenn eine "Volkspartei", wie die CDU, einen linken Flügel hat (woran niemand zweifelt), muß sie auch einen rechten haben – mit einem Flügel kann der Bundesadler kaum fliegen. Die Partei muß also wieder (wie sie es ja sehr erfolgreich in früheren Jahrzehnten war) Heimat für das zur Zeit heimatlose, undefiniert in der Landschaft vagabundierende Naitonal- und Heimatgefühl der Deutschen werden. Sie muß den Mut finden, gerade innerhalb Europas nationale, deutsche Interessen und Wünsche zu definieren. Angesichts der bevorstehenden Machtkämpfe innerhalb der EU und möglicher Probleme mit dem Euro werden solche Politiker dringend gebraucht.

Eine große Volkspartei der konservativen rechten Mitte hätte eine gewaltige politische, aber auch volkspädagogische, fast würde ich sagen: therapeutische Aufgabe zu erfüllen. Die besonders in der deutschen Medienwelt kultivierte Lust an der Selbstzerfleischung (der estnische Staatspräsident Lennart Meri sprach von Deutschland als einer "Canossa-Republik" und einer "Republik der Reue") kann doch wohl nicht Ausdruck seelischer Gesundheit und Ausgewogenheit sein.

Natürlich kann es kein "Zurück" geben – Adenauer ist Geschichte und nicht wiederholbar. Aber auf die eigenen Fundamente sollte man sich schon besinnen und auf ihnen weiter erbauen. Natürlich ist auch das Konzept einer "christ-katholischen" Partei (was ja aber die CDU im Ganzen nie gewesen ist) Vergangenheit. Aber ich könnte mir schon vorstellen, daß die nachwachsende Generation eines Tages doch nach mehr verlangen wird, als nach Brot und Spielen oder nach hohler Europa-Rhetorik. Wenn die CDU diesen Faden nicht aufgreift, werden es andere tun, und die werden dann vielleicht nicht so viele Skrupel kennen.

Nein, ich bin kein Anhänger eines Zerfalls der CDU, auch wenn ich der Partei nicht besonders nahestehe und nicht einmal ihr Mitglied, seit vielen Jahren auch nicht ihr Wähler war und bin. Ich träume von einer Partei der konservativ rechten Mitte (wobei auch hier der Begriff "rechts" definiert werden müßte), von einer Partei, die sich der brachliegenden Felder unseres Gemeinwesens annimmt, die nicht nur "aussitzt" und sich vor dem Zeitgeist duckt, sondern ruhig und selbstbewußt (keineswegs überheblich!) die deutschen Interessen vertritt. Stresemanns Deutsche Volkspartei kommt mir da in den Sinn, aber auch das ist nur eine Metapher. Solange es diese Formation nicht gibt, bitte ich, mich als politisch Heimatlosen zu betrachten.

 

Carl Gustaf Ströhm, 70, war langjähriger Osteuropa-Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt". Er lebt in Zagreb und Wien. Bisher äußerten sich auf dem Forum zur CDU-Spendenaffäre und der Krise des Parteienstaates: Klaus Hornung (JF 5/00), Roland Baader (JF 6/00) und Klaus Motschmann (JF 7/00).


 
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