© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/00 25. Februar 2000

 
Moorhuhn: Deutschlands Behörden sind gefangen im Bann des Geflügels
Blutrausch im Bürostuhl
ALexander Schmidt

In Grenzbereichen, lehrt uns die Erfahrung, können Extreme von einer Sekunde auf die andere – gleich einer aufgeladenen Gewitterwolke, die sich plötzlich ihrer Energie entledigt – umschlagen und eine Wandlung in das andere Extrem vollziehen. Dazu bedarf es nur eines Funkens, tiefste Jagdtriebe in einer eigentlich durchzivilisierten Bevölkerung aufzuwecken. Ebenso muß es oftmals nur ein kleiner Auslöser sein, der eine lethargische Menschenmenge in völligen Aktionismus ausbrechen läßt.

In der Biologie ist so ein Faktor ein reaktionsauslösender Reiz, das deutsche Beamtentum hat ihn schlicht unter der Bezeichnung "Moorhuhn" kennengelernt.

Seit etwa einem Monat ist der Büroschlaf ein quasi nicht existentes Phänomen, Verspätungen und ausgedehnte Mittagspausen gehören der Vergagenheit an, die Diktatur der Moorhenne hat begonnen. Wo früher noch Nadeldrucker Buchstaben in das Papier sägten, donnern jetzt Schüsse aus Schrotflinten, gackern Moorhühner und zwitschern Vögel in den virtuellen schottischen Highlands der Landschaft, in der das Moorhuhn vorkommt.

Eisern haben die possierlichen Comic-Enten die Seelen der Angestellten und Beamten in der Gewalt. Normale Familienväter sitzen hinter Bürorechnern, blocken Anrufe mit einem kurzen gebellten "nicht 'für zuständig" ab, murmeln kurz noch "da könnte ja jeder kommen" und widmen sich dann wieder – ohne auch nur eine Sekunde mit den Augen den Bildschirm verlassen zu haben – ihrem Fadenkreuz, das sie voller Inbrunst mit der Computermaus von Moorhuhn zu Moorhuhn steuern.

Sogar im Deutschen Bundestag hat sich die Jagdlust auf das Federvieh ausgedehnt. In der Berliner CDU-Landesgeschäftsstelle steht der Rekord bei 885 Punkten, schwach im Vergleich zu Ranglisten im Internet, in denen schon der Durchbruch der 1000er Grenze dokumentiert wird. Aus dem Büro der ehemaligen Bundestagspräsidentin Süßmuth war ebenfalls von ihrem Büroleiter das Bekenntnis zum Moorhuhn zu hören – der allerdings nur privat spiele, wie er beteuert.

Nach einer Meldung vom Spiegel sind jetzt auch Arbeitsämter, der Chrysler Konzern und Flughäfen von dem Werbespiel des Whiskey-Herstellers Johnnie Walker befallen. Weiter meldet der Spiegel, daß auch im Axel-Springer Gebäude das Moorhuhn im Netzwerk sein Unwesen treibt, man selbst aber noch verschont blieb, denn das Macintosh-Redaktionssystem unterstütze das für DOS-Rechner konzipierte Spiel nicht.

Was aber passiert wirklich, wenn Rudolf Augstein angespannt hinter seinem Notebook daddelt und der Leitartikel wieder nicht fertig wird? Ist er vielleicht doch auf der Jagd nach Moorhühnern, in denen er kleine Zitelmänner sieht?

Gerüchten zufolge hört man mittlerweile sogar aus Stäben der Bundeswehr das Gezwitscher der schottischen Vögel. Von Zeit zu Zeit, heißt es, schlendern selbst hohe Militärs pfeifend durch die Flure: "Moorhühner rauschen durch die Nacht / Mit schrillem Schrei nach Norden/ Unstete Fahrt! Habt ach, habt acht! / Die Welt ist voller Morden...."

Das hat auch der Tierschutzverein festgestellt. Thomas Schröder, Sprecher der Tierrechtler, kritisierte den mangelnden Respekt vor Tieren, der in dem Spiel enthalten sei. Das Spiel vermittle nämlich den Eindruck, daß Moorhühner einfach "per Mausklick" abgeschossen und getötet werden könnten. Die Werbeagentur "Art Departement" kennt das Problem, dem man bereits in der Entwicklung dadurch begegnet sei, daß die Tiere lediglich vom Himmel geholt, nicht aber getötet werden. Das will das zum Ende des Spieles auf den Bildschirm des Rechners plumpsende Moorhuhn verdeutlichen.

Gattinen von Jägern sind dagegen hellauf begeistert. Endlich wissen sie, wo sich ihr Mann herumtreibt, er wird nicht mehr naß und krank, wie sie es von der Pirsch auf das echte Federvieh kennt und muß sich letztlich nicht mehr mit dem Rupfen der mageren Beute plagen. Einfach nur ein Knopdruck, und das Jagdglück ist in einer versteckten Datei gespeichert, ohne viel Blut und Mühe. Jetzt muß sich der Deutsche Jagd Verband mit einer Cyberpolizei natürlich auch um die Einhaltung der Schonfristen bemühen.

Was ist wirklich der Auslöser für die Moorhuhn-Euphorie, die dazu führte daß unter Computerbesitzern Erscheinungen wie Sehnscheidenentzündungen, Augenflimmern und Alpträume von einer überdimensionalen Moorhenne, die ihre getöteten Artgenossen rächen will, immer häufiger registriert werden?

Die Bild-Zeitung berichtete sogar schon von einem Patienten, der nicht zur Arbeit konnte, weil er die Nacht auf Moorhuhnpirsch verbracht hat. Ist es das Kind im Manne, das, wie Nietzsche konstatierte, spielen will? Die letzte Suche nach dem PC-Stahlgewitter? Oder schlicht der Agon, dem wiederum Nietzsche soviel zuspricht? Letzteres wohl am ehesten, denn ohne die Gruppendynamik, die sich durch die Verbreitung des Spiels in Behörden ergibt, hätte das Moorhuhn trotz ansprechender Grafik und leichter Verfügbarkeit ( Download: www.moorhuhn.de ) sicher nicht diese Präsenz in der Öffentlichkeit erhalten.

Aber Vorsicht! Experten sprechen bereits von Suchtgefahr. Spätestens wenn daheim die Begrüßung "mein kleines Moorhuhn" lautet, ist es an der Zeit, den medizinischen Rat zum "trockenen Moorhuhnentzug" von Dr. Horst Heiner Griltanz anzunehmen. Er gilt mit seiner Habilitationsschrift "Addictive Moorhühnerei – in drei Phasen" als Experte auf dem Gebiet der Moorhuhnforschung. Als Betroffener: sein Vater, der sich in ein Moorhuhn verwandelte.

Was, wenn der Moorhuhn-Exzess zur Unlust am Waidwerk wird und ebenso wieder verschwindet, wie er gekommen ist?

Die Amtsstuben drohen wieder in den trüben Alltag zu verfallen, ohne Vogelgezwitscher aus Lautsprechern und dem elektronischen Büchsenhall. Nicht mit den findigen Programmierern. Das Moorhuhn lebt weiter, die zweite Folge ist bereits veröffentlicht. Nichts desto trotz, irgendwann wird das frohe "Waidmannsheil" in den Behörden dem trübsinnigen "Mahlzeit" weichen. Aber bis dahin gilt: die Spiele mögen beginnen.


 
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