© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/00 03. März 2000

 
Konstantin K. Vaginov: Bocksgesang
Fenster nach Russland
Max-Rainer Uhrig

Wer über St. Petersburg schreibt, kann mitunter der Versuchung nicht widerstehen, sich sprachlicher Klischees zu bedienen: "Venedig des Nordens" und "Fenster nach Europa" sind gängige Metaphern, die den Blick auf diese bemerkenswerte Metropole am Mündungsdelta der Newa in althergebrachte Bahnen lenken. Doch dem Westeuropäer, der sich dieser Stadt nähert, muß Petersburg zwangsläufig als "Fenster nach Rußland" erscheinen, das ihm flüchtige Einblicke gewährt, sofern er das amphibische Gewirr der Kanäle, Brücken und Inseln einigermaßen zu überschauen vermag. Der neugierige Blick durch die Mattscheibe des Touristenbusses auf das bunte Treiben des Newskij-Prospekts läßt neue Klischees gerinnen. An den Metrostationen pulsieren die Märkte, schwarz gekleidete "biznesmeny" umklammern zärtlich ihr Handy, vor schrillen Modeboutiquen lassen grimmige Sicherheitsmänner ihre Muskeln spielen. Die Umbruchszeit der zu Ende gegangenen Jelzin-Ära bediente den Fremden mit Bildern, die er so schnell nicht vergißt und zu einem kurzweiligen, aber oberflächlichen Kaleidoskop des postsozialistischen Rußland zusammenfügt. Das entstellte, moralisch und ästhetisch heruntergekommene Gesicht dieser Stadt nimmt nur derjenige wahr, der sich von der Glitzermeile des Newskij, vom Touristenrummel am Gribojedow-Kanal und vom Farbenspiel der frisch restaurierten Kirche "Christi Auferstehung auf dem Blute" abwendet, um sich im Gewirr der Nebenstraßen und Vorstadtkanäle zu verlieren. Dort könnte der wagemutige Tourist einem neuen Konstantin Vaginov begegnen, der die Verkrüppelung der neokapitalistischen Übergangszeit studiert, um sie seinem Roman in verfremdeter Form zu inkorporieren.

Auch der Romanerstling des wahren Konstantin Vaginov, 1928 erschienen, spielt vor der Staffage einer Übergangsgesellschaft. Er bietet ein Fenster in die Innenwelt bürgerlicher Intellektueller, in denen sich eine schmerzhafte Ablösung von den althergebrachten Gewohnheiten und Wertvorstellungen vollzieht. Diskutierend und lamentierend winden sich diese Schriftsteller, Künstler, Professoren und abgehalfterten Offiziere des alten Systems durch den harten Alltag einer Stadt, die nicht nur ihren Namen, sondern auch ihre Identität verloren hat. Unter dem dröhnenden Pathos des Goelro-Planes ("Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung") erhebt sich das rote Leningrad, während die menschlichen und dinglichen Relikte der höfisch-bourgeoisen Residenzstadt Petersburg ihrem langsamen Zerfall preisgegeben sind.

Konstantin Vaginov ist Exponent eines modernen Erzählens, das den Erzählvorgang als solchen niemals aus den Augen verliert. Der Autor versteht sich als Regisseur, der dem Leser eine Bühne öffnet und ihm seine Romanfiguren wie Schauspieler darbietet.

Ein "unbekannter Dichter" ("neizvestnyj poet") und ein "weltentrückter Kulturwissenschaftler und Literat" namens Teptelkin sind die Hauptdarsteller in einem Lesedrama, das tragikomische Akzente setzt. Im Bewußtsein vergeblichen Kampfes ringen diese Repräsentanten der untergehenden bürgerlichen Kultur um eine Sinngebung ihrer Existenz. Teptelkin schreibt an einem Buch "Die Hierarchie der Bedeutungen. Eine Einführung in das Studium poetischer Werke", das sich als Kompilation aus den Werken "der namhaftesten zeitgenössischen Linguisten" erweist, dem Verfasser jedoch als subtiles Kunstwerk erscheint. So ist Teptelkin ein philologischer Don Quichote, der in hellen Augenblicken erkennt, daß er sich in eine "völlig sinnlose und unnütze Beschäftigung" vertieft. Tagträumerisch und ungeschickt wandelt er durch die verfallenden Straßen der Stadt und verzehrt sich in nächtlichen Debatten mit seinem Freund und intellektuellem Widerpart, dem unbekannten Dichter. Dieser "neizvestnyj poet" ist ein Selbstporträt Vaginovs.

Der unbekannte Dichter ist keine tragikomische Figur wie Teptelkin, sondern ein hellsichtiger Intellektueller, der weiß, daß seine gesellschaftliche Uhr abgelaufen ist. Trotzdem beschließt der, seine selbstgewählte Mission zu erfüllen: "Alle sind längst weggefahren. Er aber hat kein Recht dazu, er kann die Stadt nicht verlassen. Sollen sie doch alle wegrennen, soll der Tod kommen, er aber wird hier bleiben und den erhabenen Tempel Apolls bewahren." Der unbekannte Dichter sieht sich als Teil eines ungeheuren Phönix, der untergehenden bürgerlichen Kultur, die im Chaos der proletarischen Revolution verbrennen und neu verwandelt auferstehen wird. So wie die antike Welt unter dem Ansturm der Barbaren zerfiel, um in verwandelter Form erneut wirksam zu werden, so wird der "Turm der Kultur" auch den bolschewistischen Umschmelzungsprozeß überstehen. Auf das Rad der Zeit, des ewigen Wandelns, geflochten, muß der Dichter sich selbst zum Opfer bringen, um der Nachwelt ein Zeichen zu setzen. Allerdings vermag der unbekannte Dichter seinen Höhenflug nicht lange durchzuhalten. Als sich das sozialistische System verfestigt und in bürokratischer Öde erstarrt, zerbricht der Dichter an der allgemeinen Grobschlächtigkeit und nimmt sich das Leben.

Teptelkin jedoch, das Gegenbild des unbekannten Dichters, wandelt sich auf andere Art. Er rettet sich in die Wonnen der Gewöhnlichkeit, heiratet ein Hausmütterchen und entartet zum beschränkten Bürokraten. Damit fällt der Vorhang über ein Satyrspiel, das schon im doppeldeutigen Titel des Romans vorgegeben ist: das Leben ist eine triviale Tragödie – selbst in den angeblich so heroischen Zeiten der proletarischen Revolution. Mit dieser Botschaft mußte Konstantin Vaginov in das Visier der offiziellen Literaturkritik geraten. "Friedhofskunst" nannte ein marxistischer Kritiker seine Werke im Jahre 1929. Vaginov verteidigte sich 1931 auf einer Versammlung: "In einer Epoche erdrutschartiger Veränderungen, einer Epoche, die eine Grenze zwischen zwei Kulturen – einer sterbenden und einer entstehenden – bildet, erscheinen Menschen, die, als stünden sie an einem Scheideweg, vom Schauspiel des Untergangs gebannt sind. Ich habe nicht die alte Welt besungen, sondern das Schauspiel ihres Unterganges, ganz und gar überwältigt von diesem Schauspiel." Als einer der wenigen experimentellen Autoren widerstand Vaginov bis zuletzt. Die Romane "Werke und Tage des Svistonov" und "Bambocciade" entstanden in rascher Folge. 1931 erscheint noch ein Band Lyrik: "Versuche der Verbindung von Worten mit Hilfe des Rhythmus". Als Vaginov im April 1934 mit 35 Jahren an Tuberkulose stirbt, ist er ein zunehmend verfemter, von der Zensur schon zum Schweigen gebrachter Autor. Seine Verhaftung war bereits geplant.

"Bocksgesang" ist ein Werk, das sich nicht im ersten Anlauf erschließt. Dieser ausgeprägt auktoriale Roman sucht den Dialog mit dem Leser, ist dem Prinzip der Reihung verpflichtet und neigt zur Technik der Collage. Die bunte, keinem einsichtigen Bauprinzip gehorchende Abfolge der Kapitel läßt den Leser nicht zur Ruhe kommen, bietet ihm aber auch Kontrastierungseffekte, intellektuelle Pointen und komisch-verfremdete Szenen. Beim Lesen bedarf es des öfteren der rechten Hand, deren Finger kunstvoll zwischen die Anmerkungsseiten zur klemmen sind. Wer vermag schon auf Anhieb die "Zweite Straße der Landarmut" zu identifizieren? Sie gab es tatsächlich. Wer erkennt hinter dem Namen Teptelkins die sich nur dem russischen Leser erschließende Bedeutungsassoziation "Kalb", die auf die Ungeschlachtheit seiner Erscheinung verweist? Dem Übersetzer Gerhard Hacker sei für die Erschließung solcher Bezüge gedankt.

In einem klugen Essay von Brian Poole wird Konstantin Vaginov als postmoderner Autor aus der Vergangenheit gewürdigt, ein Autor, der "westlichen Mustern ... historisch um einiges voraus war". Vaginov steht in der Tradition des "Lachens durch Tränen", einem Überlieferungsstrang im Rahmen der russischen Literatur, der von Gogol herrührt. Doch gerade Vaginov wußte um die Gefahr solcher Klischees. "Das ist ganz einfach", läßt er in "Bocksgesang" einen deutschen Studenten voller Überzeugung sagen, "Sie haben einen Tolstoj, einen Gor‘kij." Wie konnte dieses Mitglied einer ausländischen Delegation aber auch wissen, wie qualvoll und zugleich tragikomisch die Petersburger Literaturszene ihr Leben aushauchte?

 

Konstantin K. Vaginov: Bocksgesang. Roman. Hrsg. und aus dem Russischen übersetzt von Gerhard Hacker. Mit einem Essay von Brian Poole, Verlag Johannes Lang, Münster 1999, 304 S., 48 Mark


 
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