© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/00 03. März 2000

 
Kohls gigantische Erblast
von Gerard Radnitzky

Ein junger Student reicht in Mainz im Fach Politologie eine Dissertation ein über "Die Geschichte der CDU in Rheinland-Pfalz". Eine Fallstudie, die zeigen soll, wie man das Spiel spielte. Dann beschloß er, Politiker zu werden – mit der Motivation des Vollblutpolitikers: Macht und Geld. Geld ist notwendig, um eine Machtposition aufzubauen, und es ist auch im persönlichen Bereich nicht hinderlich. Der junge Mann hatte ein Talent zu diesem Beruf.

Zu Beginn seiner Ministerpräsidentenzeit gelang ihm, eine rasante Pensionserhöhung für Landesminister in Rheinland-Pfalz durchzusetzen. Mit der Opposition handelte er ein Kompensationsgeschäft aus: die Diäten und die Staatsmittel für die Fraktionen wurden für die Opposition stärker erhöht als für die Regierungsfraktion. So waren alle zufrieden; Oppositionskritik und Öffentlichkeitskritik waren ausgeschaltet. Und alles war legal, da die Politiker die Politikfinanzierungsgesetze selber machen. Das moralisch verwerfliche an diesen Gesetzen ist der Zwang: daß der Steuerzahler gezwungen wird, die Politiker viel generöser zu alimentieren als in anderen Ländern.

Für die politische Klasse war das politische Abzockerkartell (Modell Kohl) unwiderstehlich attraktiv. Alle Bundesländer haben es adoptiert, und auch auf Bundesebene funktionierte und funktioniert es bestens. Nach Berechnungen von Hans Herbert von Arnim lenken die Parteien pro Legislaturperiode sechs Milliarden Mark in ihre Kassen und die ihrer Hilfsorganisationen.

In den letzten dreißig Jahren hat sich die staatliche Politikfinanzierung etwa verzehnfacht; Deutschland steht damit an der Weltspitze, ist wieder einmal "einmalig". Die Politiker haben die Gesetze eben so gestaltet, daß Verletzungen des Parteiengesetzes nicht unter Strafe gestellt sind. Auch Verletzungen der Verfassung sind ungefährlich, da die relevanten Rechtsnormen nicht strafbewehrt wurden.

Wie ein Gesetz – genauer eine "Legislation" (F. v. Hayek), da sie nicht allgemein gilt, sondern nur einen bestimmten Personenkreis betrifft – zustande gekommen ist, interessiert die Öffentlichkeit anscheinend nicht. Von den Medien werden die Machtstrukturen und ihr Mißbrauch nicht einmal beim Namen genannt. Der Parteienstaat floriert seitdem. So wies die Neue Zürcher Zeitung öfter darauf hin, in Bonn regiere eine De-facto-Koalition zweier sozialdemokratischer Parteien: CDU und SPD. Unterschiede bestünden nur in der Rhetorik.

Zur Beute der Parteien im reifen Parteienstaat gehören aber nicht nur die genannten Milliarden an Steuergeldern pro Legislaturperiode, sondern – noch viel wichtiger – die Machtstruktur mit ihrer Ämterpatronage von öffentlich-rechtlichem Rundfunk und Fernsehen, Schulleitungen, Gerichten, und manchmal sogar von Chefarztstellen. Kohls Modell war auch exportfähig. Die österreichische Version hat die Sache perfektioniert: kein Oberlehrer ohne rotes oder schwarzes Parteibuch. Kein Wunder, daß die Nutznießer des Kartells Zeter und Mordio schreien, wenn plötzlich ein Kartellbrecher auftritt.

Allerdings war für Kohl die Partei nur ein Instrument. Er hat ihr die Wahl von 1998 "vermasselt" und ihr jetzt durch sein beharrliches Schweigen geschadet. Das private Ehrenwort über den Amtseid zu stellen, ist rational, solange man die Klientelstruktur von Seilschaften für mächtiger hält als die staatliche Ordnung. Daraus sind unter bestimmten historischen Umständen (durchaus rational) die "Ehrenwerten Gesellschaften", die Mafia, entstanden. Manche bezweifeln allerdings, daß es die Leute, die von Kohl ein entsprechendes "Ehrenwort" bekommen haben sollen, wirklich gibt. Kohl könnte gute Gründe haben, das vorzugeben. Die Wahrheit war für ihn immer "disponibel".

Die Beraubung der sogenannten Alteigentümer zeigt das schlaglichtartig. Kohl & Co. wurden oft, auch in Annoncen, als "Lügner, Diebe und Hehler" apostrophiert. Es ist auch ungefährlich, das zu schreiben oder öffentlich zu sagen, denn wenn Kohl es wagen würde zu klagen, dann müßte der Richter den Wahrheitsbeweis erheben und dann wäre die Situation für ihn schlimmer, als wenn er sich passiv verhält. Darauf spekulieren alle, die wie zum Beispiel der Politologe W. Hennis, als er in zwei Fernsehsendungen Kohl einen "Lügner" nannte. Dieses Verhalten gegenüber den "Alteigentümern", also deutschen Bürgern, ist das moralisch verwerfliche an Kohls Handeln. Alles andere könnte man vielleicht als zur déformation professionelle der "Spitzen" der classe politique gehörend hinnehmen.

Das Monument Kohl zerbröckelt, aber das tun alle Monumente, früher oder später. Was bleibt von seiner Hinterlassenschaft? Kurzfristig ein großer Schaden für die CDU und ein komplementärer Nutzen für die rot-grüne Koalition, sowie an Externalitäten eine Zunahme der Politikverdrossenheit.

Mittel- bis langfristig jedoch ist Kohls wichtigste Hinterlassenschaft die Verwandlung der europäischen Wirtschaftsunion in die Vision eines europäischen Superstaates. Das ist das, was vor der Geschichte zählen wird. Grüne Politiker sprechen bereits – meist unwidersprochen – von einer europäischen Innenpolitik, noch bevor es einen europäischen Staat gibt. Die EU ist auf dem Weg – mit dem Kohlschen Abzockerkartell des Parteienstaates BRD als Vorbild – sich zu einem Besteuerungskartell von Staaten zu entwickeln. Es soll der rücksichtslosen Ausbeutung des Steuerzahlers dienen zugunsten der classe politique in Brüssel. Das Modell soll auch helfen, die Wohlstandsunterschiede zwischen den noch existierenden Staaten auszugleichen: "to close the prosperity gap" heißt die fromme Parole. Selbstverständlich soll das vor allem auf Kosten der Deutschen gehen.

Kohl war gewiß der beste Kanzler, den die Franzosen je hatten. Immer servil, auch gegenüber der Meinung der "amerikanischen Ostküste", und niemals deutsche Interessen vertretend. Gemäß dem Wunsche seines Duzfreundes François hat er den Deutschen sogar die D-Mark genommen, das letzte Symbol ihrer nationalen Identität. Daß 80 Prozent der Deutschen dagegen waren, kümmerte ihn gar nicht und noch weniger die Warnung aller Wirtschaftswissenschaftler, die in der Bundesrepublik Rang und Namen haben. Die Franzosen haben ihr Ziel erreicht: die Entmachtung der Bundesbank durch die Währungsunion, genauer die Währungenfusion. (Roland Baader hat die Folgen in seinem 1993 erschienen Buch "Die Euro-Katastrophe " vorausgesagt.) Der Pariser Le Figaro jubilierte mit einem Titel "Versailles, Potsdam, Maastricht": Endlich werden die Deutschen zahlen.

Die artifizielle Kunstwährung des Euro ist in kurzer Zeit gegenüber dem US-Dollar von 1.17 auf unter pari gefallen, gegenüber dem Yen hat sie 30 Prozent verloren, das britische Pfund stieg gegenüber der noch existierenden Rest-DM von 2.40 auf 3.20, usf. Das Lob für den Euro, das die Gewinner (Großbanken und Großindustrien) singen, klingt wie der Spruch eines Promoters, dessen Schützling gerade K.O. geschlagen wurde, und der stolz erklärt: "Aber der hat ein großes Erholungspotential."

Werden die Deutschen bald ihre dritte Währungsreform erleben, mit partieller Enteignung der Sparer? Die Zukunft ist offen, warten wir ab. Das Janusgesicht der EU – Brüssel, und insbesondere die EU-Kommission, geschüttelt von Skandalen (Bruno Bandulet hat sein jüngstes Buch "Tatort Brüssel" betitelt) – ließ im Jahre 2000 die Maske fallen und zeigte offen totalitäre Tendenzen: ein Staat soll bestraft werden für Handlungen, die er zwar nicht begangen hat, aber die er nach Meinung einiger vielleicht in der Zukunft begehen könnte. Besonders starke Ausfälle kamen von deutscher Seite, von einem Mann, der als Außenminister grün ist, aber Erfahrung hat als Hausbesetzer und Straßenkämpfer.

Die l4 Herrschaften des Protests fühlen sich als Herrscher. Sie mißachten nicht nur die demokratischen Spielregeln, sondern, da sich der Boykott gegen die demokratisch einwandfrei legitimierte Regierungsbildung in Wien in der Praxis auch auf technische Kontaktnahmen auf Beamtenebene innerhalb der EU erstreckt, handelt es sich zweifellos um eine nach EU-Recht nicht zulässige Vorgangsweise.

Ebenso verstößt die Nichtunterstützung österreichischer Kandidaten bei der Bewerbung um Posten in internationalen Organisationen, falls es sich dabei um eine Besetzung für die Gemeinschaft handelt, gegen eine gemeinschaftsrechtlich verbotene Diskriminierung gemäß Art. 12, Abs. l des EGV (Vertrags über die Europäische Gemeinschaft).

Hochrangige Funktionäre in der EU wie der frisch gebackene Hohe Repräsentant für Europas Außen- und Sicherheitspolitik, der "Herr GASP" Solana verkündete dazu beschwichtigend und irreführend: Österreich sei keinen Sanktionen ausgesetzt, sondern die EU betreibe "nur" symbolische Politik. Und das, nachdem er sich nicht nur angemaßt hat, dem österreichischen Bundeskanzler die Aufkündigung dieser Regierungskoalition zu empfehlen, sondern auch darauf hinzuweisen, daß andernfalls die Quarantäne bis zum Ende der Legislaturperiode 2003 dauern wird. Eine Unverschämtheit, die wohl kaum zu überbieten ist.

Eine EU Außenpolitik scheint sich zu formieren, die mit europäischem Rechtsempfinden nichts zu tun hat und deren zentrales Wertprinzip anything goes zu sein scheint. An Kohls Erbe werden die Deutschen noch lange zu tragen haben.

 

Prof. Dr. Gerard Radnitzky, in Südmähren 1921 geboren, studierte Psychologie und Philosophie in Stockholm und Göteborg. Seit 1973 in der Bundesrepublik, lehrte er von 1976 bis zu seiner Emeritierung 1989 Wissenschaftstheorie an der Universität Trier. Bisher äußerten sich auf dem Forum zur CDU-Spendenaffäre und der Krise des Parteienstaates: Klaus Hornung (JF 5/00), Roland Baader (JF 6/00), Klaus Motschmann (JF 7/00) und Carl Gustaf Ströhm (9/00).


 
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