© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/00 10. März 2000

 
Journalismus: Carl Gustaf Ströhm über seine Arbeit als Osteuropakorrespondent beim Springer-Verlag und die Krise konservativer Publizistik in Deutschland
"Ich habe nie Fakten verbogen, um Sympathien zu rechtfertigen"
Dieter Stein

Herr Dr. Ströhm, als Leiter der Südosteuropa-Programme der Deutschen Welle und später als langjähriger Osteuropa-Korrespondent der "Welt" waren Sie einer der wenigen, die frühzeitig auf die Explosivkraft der nationalen Gegensätze im Ostblock hingewiesen haben. Sie haben frühzeitig auch durch Ihre Reportagen und Analysen darauf hingewiesen, daß dies der eigentliche Sprengsatz ist, der den Kommunismus zum Einsturz bringen werde. Sie sind aber damit nicht richtig gehört worden?

Ströhm: Weil das nicht zur vorgefaßten Meinung paßte. Man sah lange Zeit – besonders im damaligen Meinungsklima der Bunderepublik – die Situation bipolar: Ostblock gegen Westblock. Man wollte nicht sehen, daß innerhalb des Ostens sehr unterschiedliche, heterogene Kräfte wirkten. Man wollte nicht erkennen, daß alle großen Freiheits- und Widerstandsbewegungen nach 1945 im Osten national geprägt waren: der 17. Juni 1953 in der DDR war ein nationaler Arbeiteraufstand. Die Aufständischen rissen die rote Fahne vom Brandenburger Tor und hißten stattdessen Schwarz-rot-gold. Drei Jahre später, 1956, kam es zu Aufständen und Unruhen in Polen, gleichfalls unter nationalpolnischen Symbolen gegen die kommunistische Herrschaft. Dies wiederum löste die ungarische Revolution aus, die ich als damals junger Journalist und eigentlich noch Student, in ihrer Großartigkeit und Tragik als Augenzeuge miterlebte. Es war eine Manifestation des ungarischen nationalen Unabhängigkeitsstrebens, getragen von Arbeitern, Intellektuellen und Soldaten. Das war eine explosive Mischung. Zwölf Jahre später folgte der Prager Frühling, der mit einer vorübergehenden Erstarrung endete.

Wodurch wurde diese aufgebrochen?

Ströhm: Eine entscheidende Rolle spielte der neugewählte Papst aus Polen, Johannes Paul II. Sein erster Besuch in seiner polnischen Heimat wurde 1979 zu einem revolutionären Ereignis, als er vor Hunderttausenden knienden Menschen in Warschau ausrief: "Ich bin der slawische Papst. Ich werde für jene Völker sprechen, die so lange schweigen mußten." Als ich diese Szene sah, war mir klar: dies ist das Ende des Kommunismus in Polen. In diesem Sinne habe ich damals für die Welt berichtet, was übrigens gar nicht gern gesehen und gelesen wurde, weil die Entspannungspolitik auf der Prämisse beruhte, der Osten sei so tot und ruhig wie ein Friedhof. Die offizielle Bonner Politik hat sich damals auf die kommunistischen Regime und vor allem auf Moskau konzentriert. Meine These lautete dagegen, daß man hören und sehen müsse, was im Vorfeld des sowjetischen Imperiums passiert – vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer. Aber das wurde oft gar nicht verstanden.

Wie ist das zu erklären?

Ströhm:: Im Januar 1989 saß ich mit einem österreichischen Diplomaten zusammen, der seinerzeit zum Kabinett des Außenministers Alois Mock gehörte. Der sagte mir so nebenbei: "Nach unseren Erkenntnissen bahnt sich in der DDR innerhalb der nächsten zwei Jahre eine Konfrontation zwischen Regime und Bevölkerung an. Wir sind der Meinung, daß das Regime diese Konfrontation nicht aushalten wird." Dann fragte mich dieser Diplomat: "Was denkt man denn in Bonn darüber?" Ich sagte ihm, ich führe demnächst nach Bonn und würde dort nachfragen. Um es kurz zu machen: Als ich diese Geschichte in Bonn erzählte, bin ich eigentlich von allen Gesprächspartnern einhellig ausgelacht worden. Aber Herr Ströhm, hieß es da, wir müssen doch seriös bleiben! Was heißt denn Konfrontation! Nun, der österreichische Diplomat hatte sich, wie sich bald herausstellte, nur in der Zeitfolge geirrt, nicht in der Substanz: die Konfrontation kam nicht nach zwei Jahren, sondern nach neun Monaten.

Sie meinen, man war ignorant gegenüber den nationalen Fragen der osteuropäischen Staaten, weil man der eigenen nationalen Frage nicht begegnen wollte?

Ströhm: Genau das war es. In den Umbruchsmonaten 1989/90 war ich oft in der Hauptstadt Sloweniens, Ljubljana (Laibach). Irgendjemand führte mich in ein Hinterzimmer, wo das Gründungskomitee der Sozialdemokratischen Partei Sloweniens seine erste Sitzung abhielt. Noch existierte ja das titoistische Jugoslawien und noch regierten auch in Laibach die Kommunisten. Die mutigen slowenischen Sozialdemokraten waren die ersen, die es seit Ende des Zweiten Weltkrieges gewagt hatten, eine Partei in Jugoslawien zu gründen und damit das Machtmonopol der KP anzugreifen. Sie waren voller Enthusiasmus und sagten mir: "Wir möchten unser großes Vorbild Willy Brandt einladen, nach Ljubljana zu kommen. Wir möchten eng mit der SPD zusammenarbeiten, weil sie unser großes Vorbild ist. Wir werden jetzt gleich in Bonn bei der SPD anrufen." Die SPD hat diese slowenischen Sozialdemokraten eiskalt abfahren lassen und ihnen erklärt, sie wolle nichts mit Separatisten zu tun haben. Sie hat zum Gründungskongress weder eine Delegation, geschweige denn Willy Brandt geschickt. Es gab nicht einmal ein Grußtelegramm für die Slowenen. Zur gleichen Zeit aber gab es intensive Kontakte und Parteibeziehungen zum Präsidium der jugoslawischen Kommunisten in Belgrad.

Als der Kommunismus 1989/90 zusammenbrach und sich eine mitteleuropäische Nation nach der anderen selbständig gemacht hat und ein Völkerfrühling ohnegleichen einsetzte, hätten aus Rufern in der Wüste, wie Sie einer waren, doch gefragte Leute werden müssen?

Ströhm: Nun, unsereiner war gefragt - bei den aus der Tiefe des Vergessens auftauchenden Völkern und deren Führungsschichten. Die lasen jede Zeile meiner Artikel und wußten, daß ich sie verstanden hatte. Estlands Staatspräsident, Lennart Meri, sagte vor einigen Jahren, sehr zum Mißfallen einiger etablierter "Germanen", anläßlich einer Feier zur deutschen Wiedervereinigung in Berlin: "Deuschland ist eine Canossa-Republik, eine Republik der Reue." Er meinte, aus einer solchen Position heraus könne man keine Politik betreiben. Der jüngst verstorbene Präsident Kroatiens, Franjo Tudjman – viel geschmäht, aber ich halte ihn trotz allem für einen der bedeutendsten Politiker Mitteleuropas seit 1945 – fragte mich einmal: "Was wollen eigentlich die Deutschen?" Er sagte: "Ich sehe die Amerikaner, und ich weiß, was sie wollen. Ich sehe die Engländer, Franzosen, die Russen und die Italiener, und ich weiß, was sie wollen. Aber was wollen die Deutschen? Können Sie mir sagen, was ist die deutsche Politik?" Leider muß ich gestehen: Ich konnte ihm keine schlüssige Antwort geben.

1989 ist ja selbst in Deutschland eine nationale Euphorie ausgebrochen, selbst in verschlafenen westdeutschen Regionen gab es so etwas wie einen patriotischen Frühling ...

Ströhm: Zunächst aber hat der Sturz des Kommunismus in Deutschland etwas Interessantes bewirkt, nämlich eine Stärkung der antinationalen Positionen der Linken. Man erkennt das auf den ersten Blick in Berlin, wo man sich von der Liebknechtstraße zur Clara-Zetkin-Straße und vom Marx-Engels-Denkmal zu den diversen sowjetischen Ehrenmälern zwischen Tiergarten und Treptow bewegt. So etwas gibt es in keinem einzigen anderen postkommunistischen Staat. Vielleicht mit Ausnahme Rußlands. Überall sonst sind die Denkmäler der kommunistischen und sowjetischen Ära radikal abgeräumt worden. In Frankfurt/Oder ist die Situation besonders grotesk: Die erste Straße, die man von Polen kommend betritt, ist nach Rosa Luxemburg benannt. Auf der polnischen Seite gibt es keine Rosa-Luxemburg-Straße. Da sieht man die unterschiedliche Bewußtseinslage.

Oder weiß Deutschland nach der unfreiwillig erreichten Einheit noch immer nichts richtig mit sich anzufangen?

Ströhm: Da ist diese unpolitische Allerweltsformel: Wir wollen kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland. Der frühere Bundespräsident Herzog hielt noch in seiner Amtszeit eine Philippika gegen den angeblich überholten Nationalstaat – und das zu einer Zeit, da Dutzende von neuen Nationalstaaten zwischen Mitteleuropa und Zentralasien entstanden. Das deutsche, "germanische" Unverständnis für diese nationalstaatliche Dimension erreicht manchmal unfreiwillig komische Ausprägungen. Mir erzählte ein Ukrainer vom Besuch einer prominenten deutschen Politikerin, die – während schon über Kiew die blaub-gelben ukrainischen Fahnen wehten – dort sagte, die Bundesrepublik Deutschland wünsche beste Beziehungen zur Sowjetunion. Plötzlich rief einer der Ukrainer: "Madam, es gibt keine Sowjetunion mehr. Sie befinden sich in der unabhängigen Ukraine." Die Fixierung auf Moskau reicht bis tief in die Reihen der Unionsparteien. Ich war dabei, als der damalige CSU-Vorsitzende und Finanzminister Theo Waigel auf einem Symposion erklärte, in Europa habe immer Frieden, Glück und Eintracht geherrscht, wenn Deutschland und Rußland eng zusammenarbeiten. Darauf sah man buchstäblich, wie den anwesenden Ungarn, Letten, Esten und anderen Ostmitteleuropäern die Kinnlade herunterfiel. Und ein zufällig neben mir stehender Pole flüsterte mir zu: "Was bedeutet denn das? Wollt Ihr einen neuen Molotow-Ribbentrop-Pakt?"

Sind denn aus Ihrer Sicht die mitteleuropäischen Länder, die in die EU durch die Osterweiterung aufgenommen werden, quasi eine nationale Auffrischung für die ins Antinationale tendierende EU?

Ströhm: Diese Staaten und Völker haben gegenüber dem Begriff "Europa" sehr gemischte Gefühle. Einerseits wollen sie natürlich zur EU, das ist für sie auch eine Frage der Sicherheit. Diese Länder haben den Schock der sowjetischen Okkupation noch in den Knochen. Sie haben Angst, daß der "große Bruder" aus dem Osten eines Tages wiederkommen könnte. Selbst wenn dieser große Bruder nicht mehr stark genug sein wird, ganz Europa zu erobern – für den Verlust der Unabhängigkeit des Baltikums genügen einige russische Panzer und Fallschirmjäger. Ich möchte mal gerne wissen, ob der Westen einen Krieg mit Rußland führen würde, wenn plötzlich russische Einheiten Teile Estlands oder Lettlands besetzen sollten, etwa unter dem Vorwand, die Menschenrechte der dortigen russischen Minderheiten schützen zu wollen. Natürlich wünschen sich diese Nationen die Zugehörigkeit zu Europa. Auf der anderen Seite haben sie schlimme Erfahrungen mit einem multinationalen, supranationalen System gemacht, denn das Sowjetsystem war ja in gewissem Sinne eine supranationale Integration par excellence. Im Zusammenhang mit dem Österreich-Boykott der EU macht sich in vielen ost- und mitteleuropäischen Köpfen großes Unbehagen breit. Da sagen sich manche Leute, die weder pro Haider und nicht einmal pro-österreichisch sind: Wenn die so mit dem relativ reichen Nettozahler Österreich verfahren, was werden sie dann erst mit uns armen Schluckern anstellen, wenn wir nicht parieren? Die Brüssel-Doktrin weckt unangenehme Assoziationen mit der seinerzeitigen Breschnew-Doktrin: Beide grenzen die Souveränität von Mitgliedern eines supranationalen Zusammenschlusses ein.

Werden die mittelosteuropäischen Staaten, die durch die Osterweiterung aufgenommen werden, für eine nationalere Färbung der EU sorgen?

Ströhm: Da bin ich sehr gespannt. Jetzt haben wir 15 Mitglieder, dann werden es 28 oder noch mehr sein. Das bedeutet automatisch, die Frage nach der Struktur zu stellen. Sie können nicht 28 Staaten aus einem Superzentrum regieren - es sei denn, sie haben diktatorische Vollmachten. Die Vereinigten Staaten von Europa kann es nicht geben, dafür fehlen alle Voraussetzungen.

Die EU wächst, aber es kommt wieder zu einer Verlagerung der Kompetenzen zurück zu den Nationalstaaten?

Ströhm: Dies erscheint mir unvermeidlich, es sei denn, man nimmt ein Fiasko in Kauf. Die Sowjetunion hatte in ihren besten Zeiten 15 Mitglieder, und schon das ging schief.

Kommt es aber im Zuge der Globalisierung nicht zu größeren Einheiten und staatlichen Organisationen?

Ströhm: Die Globalisierung ruft einen dialektischen Prozeß hervor. Je mehr Globalisierung, desto mehr Widerstände. Das regionale und nationale Bewußtsein versucht, ein Gegengewicht zu bilden.

Sie meinen also, daß das Zeitalter der Nationalstaaten nicht zu Ende ist?

Ströhm: Ich sehe kein Absterben der Nationalstaaten, und ich sehe kein Absterben der nationalen Identifikation. Ein normaler Este oder Pole wird sich doch nicht mit Brüssel oder einer anonymen Super-Organisation identifizieren, sondern er identifiziert sich mit seinem Land, seinem Volk. Wenn der Westen, auf den die osteuropäischen, mitteleuropäischen Nationen so große Hoffnungen setzen, diese Hoffnungen enttäuscht, könnte sich das Nationalgefühl – oder, wenn Sie wollen, der Nationalismus – dieser Völker über kurz oder lang gegen ihn richten.

Kommen wir zur deutschen Publizistik. Sie sind nicht nur ein Kenner des Ostens und Freund der kleinen europäischen Nationen, sondern sehen sich explizit als konservativen Publizisten. Sie haben ihre eigene Erfahrung gemacht mit der deutschen Medien- und Presselandschaft. Sind Sie verbittert über die Entwicklung der Presse in Deutschland?

Ströhm: Ich bin eher besorgt, weil es im heutigen Deutschland keine einzige konservative Tageszeitung mehr gibt. Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist in letzter Zeit deutlich nach links gerutscht – bis hinein in die Terminologie.

Sie haben ja neulich eine große Abrechnung mit der Osteuropa-Berichterstattung der FAZ veröffentlicht.

Ströhm: Ich habe einige kritische Bemerkungen anhand von konkreten Beispielen gemacht. Was mich erschüttert, ist die Tatsache, daß auch in der FAZ bereits ideologische, linksliberale Vorgaben akzeptiert werde. Die FAZ hat mit dem Abgang von Johann Georg Reißmüller offenbar ihren Kompaß mit Blick auf Ostmitteleuropa und Südosteuropa verloren. Das ist sehr schade. Was nun die Welt betrifft, jene Zeitung, für die ich länger als ein Vierteljahrhundert in Osteuropa tätig war, so muß ich zu meinem Bedauern sagen, daß sie sich gewissermaßen selber an den Rand manövriert hat. Sie war einmal in den besten Zeiten – unter der Chefredaktion von Herbert Kremp – eine lesenswerte Zeitung mit klarer Linie. Damals schrieb dort der leider viel zu früh verstorbene Enno von Loewenstern oder der langjährige Kultur-Chef Günther Zehm, der, so wie einige andere konservative Redaktionsmitglieder, regelrecht vergrault wurde. Heute ist er ein glänzender Universitätsprofessor der Philosophie an der Uni Jena und als "Pankraz" eine Zierde der JUNGEN FREIHEIT.

Aber wie konnte das Haus Springer einen Mann solchen Kalibers sang- und klanglos gehen lassen? Ist das nicht ein Zeichen dafür, daß journalistisches Profil und Persönlichkeit heutzutage gar nicht mehr gefragt sind und daß man stattdessen stromlinienförmige oder auch gesichtslose und in gewisser Weise namenlose – Pressefunktionäre vorzieht? Nicht zu vergessen, daß in der Welt wenige Monate vor dem Sturz des Kommunismus und dem Fall der Mauer – die von Axel Springer eingeführten Anführungszeichen, die berühmten "Tüttelchen", ohne die die Bezeichnung "DDR" in keiner Springer-Zeitung erscheinen durfte – abgeschafft wurden. Dazu las man dann verlegen-peinliche Kommentare, wonach es jetzt gelte, die "alten Zöpfe" abzuschneiden. Nun, man hat sich dabei ins eigene Fleisch geschnitten – nur um Honecker zu gefallen, der sonst keinen Springer-Korrespondenten in Ost-Berlin zulassen wollte. Das war ein typisches Beispiel dafür, wie man Ereignissen hinterherläuft, statt sie zu gestalten.

Was hat sich durch Springers Tod 1985 geändert?

Ströhm: Es ist tragisch, daß der alte Springer den Tag des Falles der Mauer nicht erlebt hat – er, den man wegen seines Glaubens an die Wiedervereinigung verlacht hat. Leider wurde mit seinem Tod die Springer-Linie verwässert. Es kam ironischerweise zu einer Anpassung und Anhimmelung der bereits kurz vor ihrem Sturz stehenden kommunistischen Diktatoren. Der bulgarische KP-Chef Todor Schiwkow, ein Mann, an dessen Händen das Blut der Ermordeten bis zu den Ellenbogen klebte, erhielt zwei ganze Seiten in einem Welt-Interview – mehr als ein Bundeskanzler. Damals, drei Jahre vor dem Umschwung, wurde mir mitgeteilt, ein kritischer Artikel aus meiner Feder über das Regime Ceausescus in Rumänien könne nicht veröffentlicht werden, weil die Welt ein Interview mit dem Diktator beantragt habe.

Nach wie vor war die Springer-Presse CDU-nah. Wurde von Kohl Einfluß auf die redaktionelle Arbeit genommen?

Ströhm: Auch da veränderte sich nach Axel Springers Tod einiges. Zu seinen Lebzeiten stellte sich der damalige Chefredakteur Kremp vor mich, wenn aus dem Kanzleramt oder dem Auswärtigen Amt Klagen über "diesen Ströhm" laut wurden, der die "Ostpolitik störe". In späteren Zeiten haben andere Chefredakteure den Druck nicht abgefangen, sondern weitergegeben. Das hat die psychologische Situation sehr negativ beeinfluß.

Sind Sie im Herzen ein alter Antikommunist geblieben und denken Sie immer noch in diesen Katagorien?

Ströhm: Der Begriff "Antikommunist" gilt ja fast schon als Schimpfwort. Aber ich stehe dazu, denn ich bin gegen totalitäre Regime. Nachträglich betrachtet, war mein Antikommunismus noch viel zu milde, denn das volle Ausmaß der Katastrophe und Pleite dieses Systems habe ich trotz scharfer Kritik auch erst post festum erkannt.

Sie sind während Ihrer Zeit bei der Deutschen Welle für einen sachlichen journalistischen Stil eingetreten.

Ströhm: Ich halte nichts von Verbalattacken und von Journalismus mit Schaum vor dem Mund. Heute bin ich stolz darauf, daß ich in meiner ganzen Osteuropa-Berichterstattung zwar oft attackiert, aber so gut wie niemals dementiert worden bin.

Sie kritisieren, daß die Zeitungen heute unterschiedloser geworden sind?

Ströhm: Chefredakteure großer Zeitungen waren einst hochgebildete Leute, Persönlichkeiten, die man sich ohne weiteres in einer Universität oder als Botschafter vorstellen konnte. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, daß es keine Zeit gab, da Staatsmänner und führende Presseleute oder Kommentatoren sich gleich zu gleich begegnet sind. Heute kann davon keine Rede sein! Die Meute wird auf Massen-Pressekonferenzen abgefertigt.

Wo brauchen wir denn vor allem unterscheidbare Positionen?

Ströhm: Man muß die Grundfragen wieder kontrovers diskutieren können - die Frage Deutschland und die EU, die Frage der eigenen Vergangenheit. Es genügt nicht, gewissermaßen Selbstgespräche zu führen. Wie kommt es, daß die nationalsozialistische Vergangenheit bis ins letzte bewältigt werden muß, die Vergangenheit unseres Außenministers Joschka Fischer aber ein Tabu ist, an das sich niemand heranwagt? Wenn es in Deutschland eine linksliberale, linke, linkssozialistische Position gibt - warum gibt es keine artikulierte Mitte-Rechts-Position, wie in anderen "normalen" Staaten? Was ist da passiert? Wenn es eine Linke gibt, muß es eine Rechte geben, sonst ist doch alles Reden über Demokratie sinnlos.Meine gute, liebe Welt, für die ich mir die Finger wund geschrieben und die Füße bis hin zu den Kriegsschauplätzen Bosniens und Slawoniens abgelaufen habe – sie hätte ein Katalysator einer demokratischen Mitte-Rechts-Position sein können. Aber diese Chance hat sie verpaßt und ist jetzt ein leider beliebiges Blatt. Sie ist nicht nur in ihrem geistigen Profil abgeflacht, sondern auch in ihrer Aussagekraft geschrumpft. Es fehlt an Biß und an Bildung, da helfen alle modischen Gags nur wenig.

Wie charakterisieren Sie Ihr journalistisches Selbstverständnis? Liegt im Kern nicht etwas Aufklärerisches, das sich nicht zum verlängerten publizistischen Arm einer Partei degradieren läßt?

Ströhm: Ich bin geprägt vom bürgerlichen Journalismus. Das hängt ein wenig mit dem deutschen Bildungsbürgertum zusammen, das doch sehr beachtliche Gestalten hervorgebracht hat. Einer von ihnen war der jüngst verstorbene Theodor Eschenburg, der mich in meinen Studentenjahren stark geprägt hat. Er war für mich die Verkörperung des nationalliberalen, hanseatischen Bürgertums – und da er aus der Hansestadt Lübeck stammte, ich aber in der Hansestadt Reval geboren wurde, die ja eine Tochter Lübecks war, – gab es da so etwas wie gegenseitiges Verstehen. Bürgerlicher Journalismus bedeutet, daß man sich von Kampagnen und Vorurteilen freizuhalten sucht, daß man die Probleme analytisch präsentiert – in der Überzeugung, der Leser werde selber gewisse Schlußfolgerungen ziehen, wenn ihm die Fakten korrekt präsentiert werden. Ich habe meine Leser nie im Zweifel gelassen, auf wessen Seite meine Sympathien sind. Aber ich habe nie Fakten verbogen, um meine Sympathien zu rechtfertigen.

Und wenn wir schon bei den Bildungsbürgern sind, möchte ich einen Mann erwähnen, der aus jüdisch-großbürgerlichem Hause stammte und später sozialdemokratischer Bundeskanzler in Österreich wurde: Bruno Kreisky. Noch zu Beginn der achtziger Jahre reagierte Kreisky auf einem seiner "Pressefoyers" im Wiener Kanzleramt unwirsch, als ihm ein Journalist eine offensichtlich törichte Frage stellte. Kreisky sagte damals laut in die laufenden Kameras und Mikrophone: "Lernen S‘ erst einmal Geschichte, Herr Redakteur!" In der Tat: ein guter Politiker und ein guter Journalist müssen in Geschichte bewandert sein. Wenn es daran hapert, kann aus dem Ganzen nichts werden.

 

Dr. Carl Gustaf Ströhm wurde 1930 in Reval (Tallinn), der Hauptstadt Estlands, geboren. Sein Vater war Deutschbalte, seine Mutter Russin. Kriegswirren und Flucht brachten ihn in den Westen Deutschlands. Er studierte osteuropäische Geschichte, war Stipendiat am internationalen Seminar von Harvard (USA) und promovierte in Tübingen mit einer Dissertation über den russischen Bürgerkrieg. Schon in jungen Jahren trieb ihn journalistische Neugierde an die Brennpunkte des Ost-West-Konfliktes: von Budapest bis Moskau, von Warschau und Prag bis Belgrad und ins abgeschottete Tirana. Von 1966 bis 1972 leitete er die Südosteuropa-Programme der "Deutschen Welle". Von 1972 bis Ende 1999 schrieb Ströhm als Osteuropa-Korrespondent für die Tageszeitung Die Welt.

 

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