© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/00 10. März 2000

 
Multimedia: Wie das Internet unser Leben verändert
Hilflos im Weltnetz
Ronald Gläser

Die Aufregung, die die Big-Brother-Show insbesondere bei Otto Schily hervorgerufen hat, muß einen doch überraschen. Hat der ehemalige Terroristenanwalt vergessen, daß er und seinesgleichen in den Sechzigern die freie Liebe, das "Aus-Sich-Herausgehen" und das Ende bürgerlicher Normen bejubelt haben? Was war denn die Kommune 1 anderes als der Big-Brother-Vorgänger im Flowerpower-Zeitalter?

Betrachtet man die Kritik an dieser Fernsehsendung, so scheint folgender Aspekt bisher gar nicht beachtet worden zu sein: Was RTL2 den Zuschauern neuerdings zumutet, wird im Internet schon seit geraumer Zeit angeboten. In der Internet-Frauen-WG können Surfer rund um die Uhr dabeisein. Für 25 Mark pro Stunde entblößen sich dort Moni oder Judy – und zwar anders als bei RTL2 unzensiert.

Das Internet gibt die Trends vor, die vom Fernsehen im Kampf um Einschaltquoten nur noch kopiert werden. Dafür spricht auch die Entwicklung hin zu steigender Interaktivität. So läßt RTL2 seine Zuschauer per 0190-Nummer darüber entscheiden, wer das Big-Brother-Haus zu verlassen hat. Derartige Möglichkeiten zur Mitwirkung am Geschehen bietet sonst nur das Internet. Solche und ähnliche Erscheinungen gehören zum Standardrepertoire diverser Internet-Anbieter und würden nicht bestehen, wenn es nicht ein zahlungswilliges Publikum dafür gäbe.

Die vielen Erotikseiten werden seit dem Bestehen des Internets zu Recht kritisch beäugt, sie haben aber auch zweifellos zur schnellen Ausbreitung dieses neuen Mediums beigetragen. Schon zur Zeit von Johannes Gutenberg sollen einschlägige Schriften und vor allem Bildbände zur schnellen Verbreitung der neuartigen Technik beigetragen haben.

Im Zeitalter der Digitalisierung stehen noch ganz andere Veränderungen bevor, die neben der Arbeitswelt auch das Freizeitverhalten der Menschen stark beeinflußen werden. Das Fernsehen wird sich dramatisch verändern. Dieses Medium war in der Vergangenheit sehr einseitig. Dem Fernsehen auf Abfrage gehört die Zukunft.

Schon heute werben Premiere und die Telekom-Tochter Mediavision mit ihren rund 35 digitalen Spartenkanälen. Mediavision bietet Spartenkanäle wie Bloomberg-TV und diverse ausländische Programme. Richtig ausgefeilt ist das Angebot von Premiere World. Hier werden vom Volksmusikkanal bis zum Pornokanal ganz unterschiedliche Zielgruppen rund um die Uhr bedient.

Noch weiter geht ein Projekt von Bertelsmann, das zur Zeit in einer Pilotphase steckt. Der Multimediakonzern wird richtiges Fernsehen auf Abfrage verkaufen. Der Zuschauer bestimmt dann den Zeitpunkt und den Film, den Videoclip oder den Dokumentationsstreifen, den er sehen will. Solche TV-Innovation basieren auf derselben Digitaltechnik wie das Internet, so daß zurecht von einer Verschmelzung der Medien gesprochen wird.

Dies betrifft auch die Printmedien, die älter als das Fernsehen sind. Einige Tageszeitungen verweisen schon heute bei jedem Artikel auf entsprechende Internetadressen, die weitere Informationen enthalten. Keine Zeitschrift, kein Unternehmen, keine Partei kommt heute ohne eine Präsentation im World Wide Web aus. Das Netz verändert auch das Zusammenleben in der staatlichen Gemeinschaft. Die Vernetzung der Verwaltung dürfte das Leben der Menschen ungemein vereinfachen.

Im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf werden dieser Tage sogar erstmals die Urnengänge per Mausklick durchgeführt. Auch wird in Zukunft durch die grenzüberschreitende Kommunikation staatlichen Zensurmaßnahmen der Boden entzogen. Als beamtete Staatsschützer kürzlich die Auflage der Memoiren des in den achtziger Jahren nach Ost-Berlin übergelaufenen, hochrangigen Beamten Tiedge beschlagnahmten, dauert es nur Stunden, bis interessierte Surfer das Elaborat online lesen konnten. Auch Hitlers "Mein Kampf" kann sich heute jeder über das Internet beschaffen. Die verzweifelten Versuche von Staaten wie Kuba oder China, das Internet zu zensieren, sind zum technischen Scheitern verurteilt.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Vernetzung sind immens. Wer auf der CeBIT die unzähligen Hallen mit Internetfirmen besuchte, konnte sich ein ungefähres Bild von der Veränderung machen, die uns alle betrifft. Da gibt es inzwischen unzählige Firmen, die Produkte und Dienstleistungen erstellen, deren Bedeutung ausschließlich Fachleuten klar ist.

Klar ist, daß es neben vielen Gewinnern auch Verlierer geben wird. Die Tageszeitungs- und Buchverlage können mit dieser neuen Entwicklung leben, die Musikbranche nicht. So steht der Niedergang der erfolgsverwöhnten Plattenindustrie dank der MP3-Technologie unmittelbar bevor. Wer sollte noch Musiktitel käuflich erwerben, wenn er sie kostenlos herunterladen kann? Ein anderer Fall sind die Videotheken, die in den achtziger Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Sobald das Digitalfernsehen Einzug in die Wohnzimmer gefunden hat, werden diese antiquierten Distributoren von "Video-On-Demand" eingehen wie die Dinosaurier.

Doch die neuen Trends aus dem Internet verändern unser Leben auch jenseits wirtschaftlicher Aspekte radikal. Die Behauptung, daß soziale Bindungen verloren gingen, stimmt nicht ganz. Denn im Zeitalter der Vernetzung und der Kooperation von Spezialisten zählen kommunikative Fähigkeiten mehr denn je. Einige Ehepartner sollen sich ja auch bereits per E-Mail kennengelernt haben.

Die Informationsflut wird zwangsläufig auch die Fähigkeit zur Selektion fördern. Wer das nicht fertigbringt, verrennt sich hilflos im Weltnetz und wird zum Süchtigen. In Amerika gibt es bereits Selbsthilfegruppen! Dennoch ist dies trotz aller Befürchtungen bisher eine Randerscheinung geblieben.


 
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