© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    11/00 10. März 2000

 
Der globale Poker
von Manfred Ritter / Klaus Zeitler

st – weitgehend unbemerkt – bereits eine neue Epoche der Weltgeschichte angebrochen? Es läge nahe, diese Frage mit dem Hinweis auf den Zusammenbruch des Kommunismus und das Ende des Kalten Krieges zu bejahen.

Diese Entwicklung war für uns Europäer unbestreitbar sehr gewichtig. Die historisch wesentlich entscheidendere Veränderung vollzieht sich allerdings weniger spektakulär und wird deshalb von den meisten Medien kaum beachtet. Trotzdem dürfte sie zu einer Verlagerung der weltpolitischen Kräfteverhältnisse führen, wie wir sie uns heute kaum vorstellen können.

Sollte diese Entwicklung friedlich verlaufen, wird man jenem chinesischen Geschäftsmann zustimmen können, der in einem Interview durch einen deutschen Fernsehsender erklärte: "Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert Europas, das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der USA, und das kommende 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert Asiens werden." Er hätte noch hinzufügen können: "Mit der eindeutigen Vormachtstellung Chinas." Da aber Chinesen zur Zurückhaltung und Höflichkeit neigen, verzichtete er auf diese Präszisierung seiner Vorstellung von asiatischer Größe. Sie würde selbst ein vereintes Europa auf die Stufe einer zweitrangigen Macht verweisen.

Selbstverständlich kann die Entwicklung auch anders verlaufen und in ein weltweites Chaos aus Hunger, Revolution und Krieg münden. Eines läßt sich aber schon jetzt vorhersagen: Die Vormachtstellung der sogenannten weißen Völker geht unaufhaltsam ihrem Ende entgegen. Dafür sorgt bereits die Bevölkerungsentwicklung auf der Erde.

War um die Jahrhundertwende die Zahl der "non-colored" und "colored people" etwa gleich groß, so verlagerte sich das Gewicht in der – historisch gesehen – relativ kurzen Zwischenzeit dahin, daß nunmehr einem Weißen fünf Farbige gegenüberstehen. Und die Entwicklung läuft weiter in diese Richtung. Das jährliche Wachstum der Weltbevölkerung beträgt etwa 80 Millionen. Dies entspricht der Einwohnerzahl Deutschlands.

Wenn man berücksichtigt, daß sehr große dünn besiedelte Teile der Erde vorwiegend in der Hand von Weißen sind, läßt sich ausrechnen, daß in absehbarer Zeit Spannungssituationen zu erwarten sind, denen gegenüber der frühere Ost-West-Konflikt geradezu harmlos erscheint.

Dieser Konflikt war in Wirklichkeit bereits lange vor seinem Ende durch die geschichtliche Entwicklung überholt. Die einstigen Gegner hätten heute Anlaß zu engster Zusammenarbeit, denn es dürfte in Zukunft nicht mehr um Weltmachtträume, sondern nur noch um ein menschenwürdiges Überleben der einstigen Kontrahenten gehen.

Weltherrschaftsträume der Vergangenheit sind schon aufgrund der existentiellen Bedrohung der Menschheit durch Bevölkerungsexplosion, Plünderung der Rohstoffreserven und eine zunehmende Umweltzerstörung uninteressant geworden, denn die Herrschaft über Hunger- und Krisenregionen bringt mehr Belastungen als Vorteile. Vielmehr droht ein Kampf aller gegen alle, der vorwiegend ein Kampf um die Rohstoffreserven (insbesondere Erdöl) sein wird. Nur insoweit könnte eine militärische und wirtschaftliche Vormachtstellung somit noch von Interesse sein.

Eine der Ursachen dieser verhängnisvollen Entwicklung ist die Bevölkerungsexplosion in der "dritten Welt". Plünderung der Rohstoffreserven und Umweltzerstörung gingen in der Vergangenheit zwar zu erheblichen Teilen auf das Konto der Industriestaaten. Der Anteil der Entwicklungsländer an diesen Sünden wird aber von Jahr zu Jahr höher. Man denke nur an das Abholzen der tropischen Regenwälder mit unübersehbaren schädlichen Auswirkungen auf das Weltklima und damit auf die Agrarproduktion. Mit zunehmender Industrialisierung der sogenannten "Schwellenländer" wird außerdem der Rohstoffverbrauch explosiv zunehmen.

Diese Entwicklung hat inzwischen eine Eigendynamik entwickelt, die alle Versuche, sie abzubremsen, kläglich scheitern läßt. Dies ist den Fachleuten und einer breiten Öffentlichkeit hinlänglich bekannt. (…)

Da gemeinsame Lösungen der weltweiten Probleme offenbar nicht möglich sind, stellt sich für die westlichen Industriestaaten die Frage, wie sie sich diesem künftigen Katastrophenszenario entziehen können. Sollen wir uns etwa in eine "Festung Europa" einschließen, um darin menschenwürdig zu überleben? Könnte dies auch eine Antwort auf die Globalisierung der Wirtschaft sein?

Europa hat den Kampf um Wohlstand und menschenwürdige Lebensbedingungen seiner Bürger in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich geführt. Nun aber besteht die Gefahr, daß große Teile der Bevölkerung ins soziale Abseits geraten.

Wir befinden uns – wie andere hochentwickelte Industriestaaten – derzeit noch auf Wohlstandsinseln dieser Erde, wobei allerdings nicht übersehen werden darf, daß auch bei uns dieser Wohlstand sehr unterschiedlich verteilt ist und den sozial schwächeren Schichten nur in einem bescheidenen Maß zufällt. Die Armen aus den Ländern mit ständig wachsenden Menschenmassen werden verständlicherweise versuchen, von unserem "Wohlstandskuchen" möglichst viel abzubekommen. Dies mag manchem als gerechtere Verteilung der Reichtümer dieser Erde erscheinen. Da der "Kuchen" aber bei weitem nicht groß genug ist, um allen Bewohnern unseres Planeten (es werden täglich etwa 220.000 mehr) eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen, könnte er bald soweit verzehrt sein, daß die europäischen Völker selbst in eine Existenzkrise geraten. Dann würde sich für uns nicht mehr die Frage des Massenwohlstandes, sondern nur noch die des Kampfes um halbwegs menschenwürdige Lebensbedingungen stellen.

Der Versuch von Menschen aus den Entwickungsländern, am europäischen Wohlstand teilzuhaben, erfolgte in den vergangenen Jahrzehnten in Form einer Masseneinwanderung, die das bereits übervölkerte Europa noch in erhebliche Schwierigkeiten bringen dürfte. Solange aber eine florierende Wirtschaft die Kassen des Staates und der Wirtschaft füllte, glaubten unsere führenen Politiker, dieses Problem vernachlässigen zu können.

Mit der Globalisierung der Wirtschaft ist nun – früher als erwartet – eine Situation eingetreten, die zunehmende Massenarbeitslosigkeit in Europa hervorruft und damit auch das Einwanderungsproblem gravierend verschärft. Dies ist jedoch nicht das zentrale Problem. Der eigentliche "Lebensnerv" und die Quelle des Wohlstandes der europäischen Völker ist und bleibt die Industrie. Wenn sie abwandert, droht uns die Gefahr eines Absturzes in die Massenarmut.

Die Globalisierung hat die Verlagerung der wirtschaftlichen und weltpolitischen Kräfteverhältnisse zum Nachteil Europas bereits weiter vorangetrieben, als vielen bewußt ist. Sie beschleunigt allerdings diese – historisch kaum zu vermeidende Entwicklung – nicht nur, sondern droht uns darüber hinaus endgültig auf das "Abstellgleis der Geschichte" zu führen!

Sind wir einmal dort gelandet, dürfen wir freilich nicht erwarten, daß man sich in den neuen Macht- und Entscheidungszentren dieser Erde noch nennenswerte Gedanken um das Schicksal oder gar den Wohlstand der Europäer macht.

Die Hauptakteure der Globalisierung sind nicht die industriell erwachenden Länder Asiens, sondern die finanziell und wirtschaftlich mächtigsten Männer der westlichen Industriestaaten - jene "global players", die hemmungslos und ohne Rücksicht auf die Arbeitnehmer in den Industriestaaten ihre Chance auf Gewinnmaximierung wahrnehmen. Das "Spiel", das jene Herren (als Vertreter großer weltweit operierender Konzerne und Banken) betreiben, ist in den wesentlichen Punken relativ leicht zu erklären. Sie verlegen die Industrieproduktion immer mehr von den Hochlohnländern (man sollte aus unserer Sicht besser "Normallohnländer" sagen) in die Billiglohnländer. Die kommunistische Bedrohung und die damit verbundene Gefahr der Enteignung haben vor dem Fall des Kommunismus derartige Verlagerungen erheblich gebremst und den westlichen Industriestaaten eine gewisse Monopolstellung auf hochwertige industrielle Produkte eingeräumt. Nachdem diese Gefahr zumindest derzeit beseitigt ist, öffnen sich für die auf Gewinnmaximierung programmierten Manager "neue Welten". Nun können sie ohne große Risiken, unter Ausnutzung niedrigster Löhne, niedrigster Sozialstandards und weitgehend fehlender Umweltschutzbestimmungen die Produktion in diese "billigen" Länder verlagern. Die notwendigen Maschinen, das Know-how und die geeigneten Schulungskräfte einschließlich der Manager werden aus den Hochlohnländern gleich mitgeliefert; man kann, so man es richtig anstellt, sehr rasch und erfolgreich produzieren. Bevorzugtes Ziel sind die asiatischen Staaten mit ihren unbegrenzten Reserven an fleißigen Arbeitskräften.

Vorwiegend durch diese Produktionsabwanderung gingen in der deutschen Industrie zwischen 1991 und 1997 fast 3 Millionen Arbeitsplätze verloren.

Dieses Geschäftsgebaren der "global players" wäre moralisch vertretbar, würden die auf solche Weise erzeugten Billiprodukte in der Region des Produktionsstandortes oder in der übrigen dritten Welt zu günstigen Preisen verkauft werden. Damit lassen sich aber keine Maximalgewinne erzielen. Deshalb werden sie vor allem in den Hochlohnländer verkauft. Man ist dann noch immer erheblich billiger als ein einheimischer Produzent und kann dennoch weit überdurchschnittliche Gewinne erzielen. Dies wäre weniger tragisch, würden diese in den Hochlohnländern erzielten Gewinne auch dort wieder investiert werden. Dann bliebe wenigstens das Kapital am bisherigen Standort und schüfe neue Arbeitsplätze. Dies unterbliebt jedoch aus dem gleichen Grund, aus dem die Industrie aus Europa abwandert: "mangels Rentabilität". Deshalb werden große Teile des Gewinnes sofort wieder in den "billigen" Produktionsstandorten investiert. So fließen nicht nur die Arbeitsplätze, sondern auch das Kapital aus den Hochlohnländern ersatzlos ab. Dieses "Spiel" kann zumindest so lange betrieben werden, bis den Hochlohnländern bzw. ihren zunehmend arbeitslos werdenden Bürgern das Geld – selbst für die importierten Billigprodukte – ausgeht.

Über die Folgen für die soziale und politische Struktur in den bisher so stabilen Hochlohnländern machen sich die "global players" keine großen Gedanken. Sie meinen, die sei Sache der verantwortlichen Politiker. Was sollen diese aber tun, wenn man ihnen das Geld wie einen Teppich unter den Füßen wegzieht?

Noch stehen wir am Anfang dieser Entwicklung, und die in Jahrzehnten angehäuften Reserven halten uns noch einige Zeit über Wasser. Man sollte aber die Grenzen der Belastbarkeit unserer westlichen demokratischen Systeme nicht überschätzen. Unsere politische Stabilität beruht auf dem Massenwohlstand. Wer ihn beseitigt, legt die Axt an die Wurzeln unserer Demokratien. (…)

Jene Zustände, die wir in den Industriestaaten längst überwunden glaubten, gäben den idealen Nährboden für revolutionäre Bewegungen ab. Es müßte nicht einmal zu einer kommunistischen Weltrevolution kommen. Auch extremer Nationalismus oder der Versuch, die eigenen Probleme durch Krieg zu lösen, könnten die Folgen sein.

Droht diese Gefahr den bisherigen Stabilitäts- und Wohlstandsinseln, so läßt sich leicht ausmalen, in welchem Ausmaß Entwicklungsländer davon betroffen wären, die sich aufgrund der durch ihre Bevölkerungsexplosion bedingten Armut derartigen revolutionären und kriegerischen Entwicklungen noch viel weniger entziehen können.

Die Globalisierung zerstört bestehende solide Wirtschatsstrukturen, ohne angemessenen Ersatz zu schaffen. Es kommt auch zu keiner dauerhaften weltweiten Arbeitsteilung, wie uns die Globalisierungsprofiteure weismachen wollten. Die Verhältnisse werden zunehmend instabil. Sie ähneln jenen von Nomadenvölkern, die ihre Zelte abbrechen, wenn die Gegend abgeweidet ist. Gleichermaßen werden die Fabriken geschlossen, wenn die Produktion am bisherigen Stndort nicht mehr die gewünschten Gewinne abwirft.

Die Globalisierung der Wirtschaft führt außerdem zu einer Globalisierung ihrer Krisenanfälligkeit. Insoweit droht sogar die Gefahr eines "globalen Domino-Effektes". Je enger die Staaten wirtschaftlich verflochten sind, um so leichter kann ein zusammenbrechender Staat die anderen mit ihm verbundenen Staaten zum Einsturz bringen.

In ihrer Maßlosigkeit gleicht die Globalisierungspolitik einem "Turmbau zu Babel", und viel spricht dafür, daß sie – wie jener Turmbau – mit einer Katastrophe für die davon betroffenen Menschen enden wird.

 

Manfred Ritter, Klaus Zeitler, sind die Autoren des Buches "Armut durch Globalisierung – Wohlstand durch Regionaliserung", das am 22. März im Leopold Stocker Verlag, Graz/Stuttgart, erscheint. Bei dem hier veröffentlichten Text handelt es sich um einen auszugsweisen Vorabdruck aus diesem Buch, für den der Verlag seine freundliche Zustimmung erteilt hat.


 
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