© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    12/00 17. März 2000


Grundrechte in Gefahr
von Dieter Stein

Am Sonntag wurde Berlin-Mitte wieder zum Zielpunkt mehrerer Demonstrationen. 30.000 Lehrer, Schüler und Eltern demonstrierten gegen "Bildungsnotstand". Weit weniger, rund 3.000, dafür unter größerer Aufmerksamkeit der Medien, demonstrierten auf der östlichen Seite des Brandenburger Tores gegen einen Umzug der NPD, zu dem sich auf der Westseite des symbolträchtigen Tores rund 600 Teilnehmer eingefunden hatten.

Die NPD kann ihre Demonstration als großen Erfolg ihrer Strategie verbuchen, eine nervöse Öffentlichkeit vorzuführen. Das Prinzip lautet, Demonstrationen dort anzukündigen und durchzuführen, wo öffentliche Erregung zu erwarten ist. Und die ist derzeit – besonders in Berlin – gratis und stets auf den Titelseiten garantiert. Die Gazetten überschlugen sich vor Panik, als ob die Hunnen in die Spreemetropole einfallen wollten, als die NPD ihre Demonstration angekündigt hatte. Sicher ist: Am Tag des Anschlusses von Österreich an das Deutsche Reich 1938 für "Solidarität mit Österreich" zu demonstrieren, ist geschmacklos, das dann auch noch mit der spießigen preußisch-kleindeutschen schwarz-weiß-roten Fahne zu tun, statt mit der 1848er Fahne Schwarz-Rot-Gold, ist vollkommen widersinnig und zeigt, wie traditionslos der Lonesdale-Nationalismus der NPD und ihres Umfeldes ist.

Es ist verblüffend, wie Politiker der CDU und der "liberalen" FDP besonders lautstark und markig nach einer Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit rufen. Die NPD-Demos sind so der willkommene Anlaß, sich lästiger Demonstrationen im allgemeinen zu entledigen. Wie schön wäre das. Man spricht von der NPD, meint aber jede unliebsame Meinungsäußerung, die einer Regierung in die Quere kommen könnte. Es ist deshalb erstaunlich weitsichtig, wenn sich Regierungsvertreter von Rot-Grün gegen geforderte Gesetzesänderungen aussprechen.

Dennoch wird unverblümt Druck auf die Justiz ausgeübt, die durch fragwürdige Gerichtsentscheidungen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aushöhlen und – in diesem Falle – NPD-Demonstrationen juristisch aushebeln soll.

Es ist hier wie bei den Kohlschen Schwarzgeldkonten: Parteien setzen sich größenwahnsinnig mit dem Staat gleich. Die Gerichte tun gut daran, sich "strictissime" (Wolfgang Thierse) an das Grundgesetz zu halten, das die Grundrechte höher ansiedelt als die Stellung der Parteien. So sehr einem NPD-Demonstrationen politisch und ästhetisch unangenehm sein mögen – aus grundsätzlichen Erwägungen sind sie hilfreich: Sie weisen darauf hin, daß Einschränkungen von Grundrechten von harmlosen Randfällen her drohen, aber schließlich das Zentrum der Demokratie treffen.


 
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